Irgendwann habe ich mal 50 Gründe fürs Laufen aufgeschrieben. Jetzt will ich einen Marathon laufen und keiner scheint mir Grund genug dafür zu sein mich dieser Quälerei hinzugeben. Ich hoffe einfach auf meinem Leidensweg zur erfolgreichen Marathoni 50 Weitere zu entdecken.

Jetzt kam es, wie es natürlich kommen musste und überrascht war ich davon nicht: Der Marathon in Berlin ist abgesagt. Wahrscheinlich die richtige Entscheidung, denn so ein Marathon muss ein Paradebeispiel für eine Veranstaltung sein, die man im Angesicht einer globalen Pandemie eher vermeiden sollte.

2019 hatten sich über 30.000 Menschen angemeldet. Leute aus allen Teilen der Welt – nicht nur aus Berlin. Über 30.000 Menschen, die einander über Stunden hinweg keuchend und hechelnd im Nacken hängen. Dazu kommen diejenigen, die sich um die Logistik kümmern: Die diesen hechelnden Schweißbeuteln bei ihrer Quälerei den Weg weisen und sie mit Iso-Drinks und Bananen versorgen. Und oben drauf die – wirklich tollen – Menschen, die am Streckenrand stehen und dazu anfeuern, jetzt noch nicht aufzugeben, weil es sind ja „nur noch 30 Kilometer!“

Gelaufen wäre ich schon gerne, aber ich möchte auch, dass diese ganze Pandemie mal vorbei ist und nicht Ende September wieder von vorne losgeht, weil ein paar zehntausend Bekloppte meinen, sie müssen quer durch Berlin rennen.

Vielleicht bin ich sogar ein klein wenig erleichtert, dass für mich nun nicht mehr die Verpflichtung besteht zu trainieren die nächsten Monate. Nicht, weil ich nicht laufen will, sondern vielmehr weil jetzt alle laufen oder einfach nur rausgehen wollen. Laufen ist Pandemie-Sport und damit zu einer Achterbahnfahrt der Emotionen geworden.

Fitnessstudios und Sportvereine sind geschlossen und das Wetter die meiste Zeit ziemlich gut. Die Kombination daraus, dass es seit Wochen nicht geregnet hat und dem Mangel an anderen Freizeitangeboten, ergeben völlig überfüllte Parks und völlig überfüllte Straßen (um die Parks). Wenn man sich unter diesen Voraussetzungen an die Empfehlung von Expert*innen hält und nicht Slalom um die Mitmenschen rennt, befindet man sich schnell im Stop and Go. Ein guter Lauffluss kann unter diesen Bedingungen kaum entstehen.

Etwas leerere Strecken kann man in Berlin unter zwei Bedingungen bekommen: Erstens, wenn man sich weit genug von den Sport- und Spazier-Hotspots der Stadt entfernt und zweitens, wenn man die Uhrzeit anpasst. Regelmäßig laufe ich jetzt mit der Dämmerung in die Nacht hinein. Auch schön. Doch dann denke ich daran, dass es jetzt immer später dunkel werden wird und ich eigentlich nicht in zwei Wochen erst um halb zehn abends in meine Runde starten will.

Gar nicht laufen zu gehen und zuhause zu bleiben ist keine Alternative. Denn viele andere Gründe das Haus zu verlassen gibt es derzeit nicht. Außerdem produziert Laufen Endorphine, „Glückshormone“, und davon versuche ich derzeit so viele abzugreifen, wie ich nur kann.

Wenn ich dann nach 45 bis 60 Minuten wieder vor meiner Haustür stehe, bin ich aufgeladen mit Wut auf Menschen, die mir im Weg rumgestanden haben und Glückshormonen von meinem mehr oder weniger guten Lauf. Ich sag’s ja, Achterbahnfahrt. Mit der Absage des Marathons entfällt auch der Druck mich dieser Achterbahnfahrt hingeben zu müssen.

Natürlich werde ich weiter laufen – und auch weiter in dieser Kolumne darüber schreiben. Denn in Zeiten von Corona habe auch ich mehr Zeit und was sollte ich sonst tun, außer zu laufen und zu schreiben?


Illustration: Jens Jeworutzki