Keine Arme, keine Beine und trotzdem perfekt. Als ihr Mitbewohner Yvonne anschleppt, beginnt unsere Autorin sich zu Fragen: Weshalb gibt es kaum kurvige Schaufensterpuppen?

Ich habe mir nie sonderlich viele Gedanken um Schaufensterpuppen gemacht. – Und das obwohl die Dinger in sämtlichen Bekleidungsgeschäften am Eingang Spalier stehen, um jede Kundin und jeden Kunden mit ihrem kühlen Blick zu begrüßen. Es musste erst Yvonne kommen, um mich auf das Thema aufmerksam zu machen. Wobei die eigentlich auch nicht freiwillig kam, sondern eines Abends von meinem Mitbewohner in unsere Wohnung geschleift wurde. „Schau mal, was ich auf der Straße gefunden habe“, verkündete er stolz, nachdem er sie in unserem Wohnzimmer abgeladen hatte.

Yvonne hieß zu diesem Zeitpunkt noch nicht Yvonne – den Namen sollte ich ihr erst zwei Stunden später unter dem Protest meines Mitbewohners verleihen. Erstmal war sie nur eine blasse, namenlose Schaufensterpuppe. Beziehungsweise eigentlich war sie noch nicht einmal das. Denn an beide Arme oder gar Beine schien ihr Erschaffer nicht gedacht zu haben.

Yvonne, die Schaufensterpuppe
Yvonne, die Schaufensterpuppe; Foto: Sarah Vojta

Eines muss ich ihr aber lassen – Gesicht und Torso sind makellos perfekt. Mit ihren hohen Wangenknochen, ihren vollen Lippen, dem markanten Kiefer, wohlgeformten Brüsten und der – im Vergleich dazu – unverschämt dünnen Wespentaille entspricht sie wohl dem feuchten Traum eines jeden Schönheitschirurgen. Trotzdem halte ich Yvonne für eine glatte Themenverfehlung, da ihre Macher am Versuch eine echte Frau nachzumachen kläglich gescheitert sind.

Ein paar Wochen später mühte ich mich an einer von Yvonnes Kolleginnen ab – eine, die sogar mit Armen und Beinen ausgestattet war. Ich arbeitete in einem Bekleidungsgeschäft und da eine Kundin nach der 34 verlangte hatte, sollte die Puppe ihr letztes Hemd geben. Mühsam zerrte ich ihr das Oberteil vom Plastikleib und muss dabei ein wirklich jämmerliches Bild abgegeben haben – immerhin war die Gute mindestens 30 Zentimeter größer als ich. Dass ich die ganze Zeit ihre Silikonbrüste in meinem Gesicht hatte, machte die Sache nicht besser. Ich entfernte noch kurz die Sicherheitsnadel, mit der die 34 an die Wespentaille der 2-Meter-Grazie angepasst worden war, und überreichte sie der wartenden Kundin.

Wieder kam in mir der Gedanke auf, warum genau diese Puppe Frauen repräsentieren sollte. Schon klar, dass es bestimmt eine handvoll gibt, die mit einer Körpergröße von 2 Metern, Maße von 90-60-90 haben – und daran ist auch absolut nichts verwerflich. Sämtliche Schaufensterpuppen nach diesen Proportionen anzufertigen halte ich dann aber doch für realitätsfremd – so gängig sind sie schließlich nicht. Immerhin kommt die deutsche Durchschnittsfrau gerade mal auf eine Körpergröße von 1,66 m und trägt Größe 42 – 44 (Quelle: statista.com).

Doch während Designer und die Wahl ihrer Models ständig von den Medien unter die Lupe genommen werden, scheinen Schaufensterpuppen von der Debatte bis jetzt verschont geblieben zu sein. Dabei wäre es um einiges einfacher, ihnen ein paar Plastikkilo mehr zu geben oder zumindest für realistischere Proportionen zu sorgen, als Models – und damit realen Menschen mit unterschiedlichen Veranlagungen und Lebensgewohnheiten vorzuschreiben, wie ihre Körper auszusehen haben.

Yvonne bekam am Tag ihres Einzugs übrigens nicht nur einen Namen und eine Gesichtsbemalung von uns verliehen; sondern auch einen Titel. Mein Mitbewohner schneiderte ihr eine Schärpe mit dem Titel „Miss Anthropie“ auf den Leib. Die trägt sie seitdem mit Stolz – wahrscheinlich auch, weil sie ohne Sicherheitsnadel wie angegossen sitzt. Denn während diese Plastikpuppen einen Menschen verkörpern sollen, stellen sie für mich das genaue Gegenteil da – Misanthropie; die Abneigung alles Menschlichen, das sich durch Imperfektion und Variation auszeichnet.