Ein am 26.09. auf Instagram veröffentlichtes Video löste eine Diskussion über cis-männliche Privilegien und Oberkörperbekleidung im Klettersport aus. Die Debatte ist nicht neu. Interessant sind allerdings die Reaktionen, denn sie machten exemplarisch das Problem der fehlenden Perspektiven-Empathie deutlich. 

Der Instagram-Account boulder_bundesliga postete am vergangenen Samstag auf Instagram ein Reel, in dem der Profi-Kletterer Yannick Flohé zu sehen ist. Er wird dabei gefilmt, wie er in der FLASHH, einer Boulderhalle in Hamburg, einen sehr dynamischen Boulder macht. Die Videobeschreibung fängt an mit folgendem Satz: „WOW … mutiges Kerlchen dieser @yannick_flohe – oder einfach nur mega Körperbeherrschung.“ Flohé trägt dabei kein Top oder T-Shirt, er ist oberkörperfrei. Am Anfang und am Ende des Videos treten weitere Personen in das Bild. Insgesamt sieht man in dem kurzen Ausschnitt mindestens fünf männlich gelesene Personen ohne Oberkörperbekleidung.
Die Kommentare unter dem Video blieben nicht lange nur bei bewundernden Aussagen über die sportliche Leistung von Flohé. Eine Diskussion über Bekleidungsvorschriften entwickelte sich, nachdem die ersten Personen kritische Nachfragen zu den blanken Oberkörpern stellten.

Neben humorvoll-klugen Kommentaren, wie „forgot to take his pants off :(„ von beta._.bela, folgten auch ernsthafte Nachfragen, wie „Keine Bekleidungspflicht in der Bundesliga?“ von juliamirmir. Die unterschiedlichen Argumente in der Diskussion zeigen ein Problem, das als fehlende Perspektiven-Empathie bezeichnet werden könnte. Damit ist die Fähigkeit gemeint, sich in die Perspektive einer anderen Person hineinzuversetzen. Dies ist besonders problematisch, wenn eine Hierarchie zwischen den Personen besteht. Zum Beispiel wenn eine Person Privilegien genießt und sich schwerer in Personen hineinversetzen kann, die diese Privilegien nicht haben. Dieses Gefälle ist in der oberkörperfrei-Diskussion gesellschaftlich begründet und basiert auf dem sogenannten „Cis Male Privilege“.

Privilegien werden nicht reflektiert

Dies wird ebenfalls in den Kommentaren angesprochen. clubsandwichclub_ schrieb: „There’s a thing called Google.com, you can type in cis male privilege and learn a thing or two.“. Dieser Kommentar spielt vermutlich auch darauf an, dass sich die Betroffenen nicht immer selbst in aller Ausführlichkeit erklären müssen, sondern Argumente und Sichtweisen auch durch eine eigene Recherche herausgefunden werden sollten. Denn schnell finden sich über eine Internet-Suche viele Informationen zum Thema „Cis Male Privilege“. Die University of Michigan hat beispielsweise eine Liste mit 39 Beispielen von (meist cisgender) männlichen Privilegien erstellt. Oft werden diese Privilegien auch um die Attribute „Weiß“ und „hetero“ erweitert.

Doch die Gegenreaktionen der kritischen Nachfragen beschränkten sich in der Diskussion unter dem Video auf Unverständnis und unempathische Äußerungen. Active.damaris kommentiert: „fand ich schon immer komisch wenn ne Halle diese Regel hat. Bin damit gros geworden, dass das egal ist“. Profi-Kletterer Jan Hojer, der ebenfalls oberkörperfrei in dem Video zu sehen ist, antwortet auf die Frage, ob die Bekleidungspflicht nur für Normalsterbliche gilt, schlicht mit einem „ja“. Yannick Flohé selbst reagiert mit der Aussage „Keine Sorge meine Nippel sind so Haarig die sieht man eh nicht“ auf die Vorwürfe.

Leider outen sich diese Personen durch ihre Kommentare als unempathisch und unreflektiert. Das Argument „Ich bin damit groß geworden, dass das egal ist.“ verdeutlicht am besten die fehlende Perspektiven-Empathie und gleichzeitig das Privileg als männlich gelesene Person oberkörperfrei sein zu können. Öffentlich oberkörperfrei zu sein ist nämlich nur für diese Gruppe unproblematisch. Brüste werden sexualisiert, selbst in manchen Freibädern dürfen weiblich gelesene Personen nicht oberkörperfrei sein und in der Öffentlichkeit stillende Mütter wurden auch schon deswegen des Platzes verwiesen. Diese Ungleichbehandlung basiert auf diskriminierenden gesellschaftlichen Normen und patriarchaler Sexualisierung. Dadurch haben männlich gelesene Personen beim Thema der Oberkörperfreiheit mehr Privilegien. Zum Beispiel die Freiheit, in einer Boulderhalle ohne Konsequenzen, wie belästigenden Blicken, Sexualisierung oder Hausverbot, oberkörperfrei zu sein.

Ungleichbehandlung tief in der Gesellschaft verankert

Active.damaris’ Kommentar verdeutlicht, wie tief diese Ungleichbehandlung in unserer Gesellschaft verankert ist. Unser Aufwachsen ist bereits davon geprägt. Aber das muss nicht bedeuten, dass Privilegien nicht reflektiert und hinterfragt werden können. Auch wenn man selbst nicht zu der benachteiligten Gruppe gehört, kann man sich als verbündete Person solidarisieren und in entsprechenden Umgebungen das Shirt anlassen. Und damit ist nicht gemeint, dass das Ziel ist, alle zu benachteiligen, wie niklashoellmer schreibt: „Es geht auch nicht darum alle gleichschlecht zu behandeln, sondern Sichtbarkeit und Aufmerksamkeit für das Thema zu schaffen und zwar vor Allem bei den Leuten die sich damit nie auseinander setzen mussten, weil sie ihr Tshirt überall ohne Konsequenz einfach ausziehen können. Ihr könnt jetzt sagen ist euch egal, nicht unser Problem […]. Aber man könnte das ja auch annehmen und sich damit irgendwie inhaltlich auseinander setzen.“.

Das Annehmen und die inhaltliche Auseinandersetzung ist der Punkt, an dem die Fähigkeit zur Perspektiven-Empathie relevant wird. Denn damit cis-männliche Menschen (an-)erkennen, wie wichtig es ist, sich zu solidarisieren, müssen sie zunächst bereit sein, sich in die Perspektive anderer Menschen hineinzuversetzen. Die Anderen sind in diesem Fall all die, die nicht das Privileg des sorglosen oberkörperfrei-Seins genießen.
Eigentlich ist das auch gar nicht so schwer. Stell dir vor, dass du in der Boulderhalle bist. Dir wird warm, weil du Sport machst. Du bist am Schwitzen. Am liebsten würdest du gerade dein Shirt ausziehen. An dieser Stelle kannst du nun versuchen, dich in die Perspektive einer Person hineinzuversetzen, deren Brust sexualisiert wird.
Möchtest du wirklich ein Hausverbot in der Halle riskieren? Hast du Lust, heimlich fotografiert zu werden? Bist du bereit, belästigende Blicke oder einen sexistischen Kommentar auszuhalten?

Viele nackte Oberkörper von männlich gelesenen Personen. Das war noch ein sehr übliches Bild, als ich mit dem Bouldern anfing. Doch dann änderte sich glücklicherweise einiges. Heute hängt in den Umkleiden der Boulderhalle Berta Block beispielsweise ein Aushang, der über angemessene Bekleidung beim Bouldern informiert und „angemessen“ bedeutet in diesem Fall: nicht oberkörperfrei. Auch in anderen Boulderhallen wird über diese Regelung aufgeklärt. Bei der Kette urban apes, der in Berlin das Basement und die Bright Site gehören, steht in der Nutzungsordnung unter Punkt 6.2 „Der Aufenthalt in der Boulderhalle ist ohne das Tragen einer Oberkörperbekleidung untersagt.“. Diese Regelung wird seit ein paar Jahren in vielen Boulderhallen in Berlin umgesetzt. 

Wie kommen also solche Szenen und Diskussionen wie in dem Video mit Yannick Flohé in der FLASHH zustande? In den FAQs der FLASHH-Website finden sich keine Informationen zu Oberkörper-Bekleidungsvorschriften. Vielleicht handelt es sich bei den breit etablierten Vorschriften zur Oberkörperbekleidung um lokale Veränderungsprozesse hier in Berlin. Immerhin ist die Awareness-Arbeit für und von FLINTA*-Personen in Berliner Boulderhallen sehr groß. Hier gründete sich auch das Felsheld*innen Festival, das erste Kletter- und Boulderfestival für FLINTA* in Deutschland. Das Team organisiert auch FLINTA* Boulder Nights in Boulderhallen. Immerhin fällt mir an dieser Stelle auch noch ein praktischer Grund ein, weshalb die Bekleidungsvorschriften Sinn machen. Eigentlich jede Boulderhalle mit strukturierten Matten erlaubt es nicht, barfuß auf die Matten zu treten. Fußpilz versus Oberkörper-Schweiß? Ich finde beides nicht so lecker.


Illustration: Céline Bengi Bolkan