Am 19. Februar 2020 wurden in Hanau neun Menschen bei einem rassistischen Terroranschlag ermordet. Armin Kurtović, Vater des getöteten Hamza Kurtović, äußerte im Interview mit der UNAuf scharfe Kritik an Hessischen Behörden und Polizei. Er schilderte von unsauberen Ermittlungen und geschlossener Verantwortungsabwehr nach der Tat – um die türmt sich ein Haufen vieler Ungereimtheiten.

Kein Entkommen

Neben dem unterbesetzten Notruf am Tattag, Kommunikationsproblemen und unterlassenen Hilfeleistungen durch die Polizei, soll am zweiten Tatort im Hanauer Stadtteil Kesselstadt der Notausgang der ‚Arena-Bar‘ verschlossen gewesen sein. Said Nesar Hashemi und Hamza Kurtović wurden dort im Alter von 21 und 22 Jahren erschossen. Der verschlossene Ausgang scheint ihnen das Leben gekostet zu haben. Gründe dahingehend zu ermitteln, gab es zur Genüge. Doch Ermittlungen wurden erst eingeleitet, nachdem Angehörige und Überlebende selbst Strafanzeige wegen fahrlässiger Tötung stellten. Dass die mittlerweile von der Staatsanwaltschaft beendet wurden, hat einen bitteren Beigeschmack: Bis heute möchte sich keiner für die Situation absoluter Auslieferung verantwortlich fühlen. „Jemand muss das ja sein, oder sind die so unfähig? Dann weiß ich nicht, welche Erkenntnis schlimmer ist.“, so Armin Kurtović im Gespräch mit der UNAuf.

„Wegducken, Verstecken und aus der Verantwortung ziehen“

„Die Jungs, die den Anschlag überlebt haben, haben am nächsten Tag gesagt‚ ‚alle Türen waren verschlossen!‘“. Der Überlebende Said Etris Hashemi bestätigte es 2 Wochen und 2 Tage nach der Tat gegenüber der Polizei, Piter Bilal Minnemann direkt am Morgen danach. Im Tatortbericht steht, dass alle Türen bei der Tatortaufnahme „verschlossen” waren. Bilder der Überwachungskameras vom Tatabend zeigen, dass Personen 38 Minuten vor der Tat zum Notausgang gehen, aber sofort wieder zurückkehren, weil dieser verschlossen gewesen sein muss. Dabei werden sie von den wachsamen Blicken Hamza Kurtovićs beobachtet. Das „zielstrebige” Verhalten des Täters, der den Notausgang keines Blickes würdigte – so steht es im Polizeibericht – lässt vermuten, dass sogar er von dem verschlossenen Notausgang gewusst hat. Der war entgegen allgemeinen Vorschriften durch Umbauarbeiten ohnehin nicht direkt erreichbar, sondern nur über einen Umweg, der an der Eingangstür vorbeiführte. Dass die Hanauer Staatsanwaltschaft all dem nicht nachging, ist für Kurtović klare „Strafvereitelung im Amt“. Ein Ermittlungsverfahren hätte von Amts wegen eingeleitet werden müssen. „Die sind ihrer Pflicht nicht nachgekommen.“

Laut ist das Achselzucken, wenn Ermittlungsbehörden mit diesen Vorwürfen konfrontiert werden. Die üben sich derweil lieber in „Wegducken, Verstecken und aus der Verantwortung ziehen.“ Said Etris Hashemis Aussage wurde zunächst nicht protokolliert. Die Angaben aus dem Tatortbericht seien nicht zuverlässig, weil der Bericht einen ausführlichen Tatortbefundbericht nicht ersetzen könne – so einer liege der Polizei aber nicht vor. Weil in einem Baugutachten von 2019 keine baurechtlichen Bedenken wegen der Fluchtwege beanstandet wurden, kann der Barbetreiber entlastet werden. ‘Nur’ mehrheitlich sagen Stammgäste und Mitarbeiter im Laufe der Ermittlungen aus, dass der Notausgang grundsätzlich verschlossen gewesen sei. Das sogar in Absprache mit der Polizei, damit bei dort regelmäßig durchgeführten Razzien keine Fluchtmöglichkeiten bestünden. Am 23.08.2021 wurden die Ermittlungen dann eingestellt. In einer Pressemitteilung begründet die Staatsanwaltschaft das wie folgt: „Es konnte jedoch nicht mit letzter Gewissheit geklärt werden, ob die Notausgangstür zum Zeitpunkt des Anschlags verschlossen war oder nicht.“ Die Tür könne nur geklemmt haben, es sei nicht sicher, ob den Menschen „die Flucht geglückt wäre“.

Entgegen den Aussagen der Staatsanwaltschaft fand die unabhängige Ermittlungsagentur ‚Forensic Architecture‘ anhand des Videomaterials der Überwachungskameras danach heraus, dass beide Opfer hätten fliehen können, wenn der Notausgang offen gewesen wäre und sie das gewusst hätten. Die Verfahrenseinstellung wurde auch nach Prüfung dieser Recherche, die Aufgabe der Behörden gewesen wäre, wiederholt durch die Generalstaatsanwaltschaft gebilligt. Angezweifelt wurde diesmal, dass die Personen auch zum Notausgang der ‘Arena-Bar’ gelaufen wären, wenn dieser offen gewesen wäre. Menschliche Fluchtinstinkte hätten sie eher vom Notausgang weggetrieben, so das Argument. Fünf Menschen saßen am 19. Februar 2020 in der Falle. “Es ist alles belegt.”  Dass die Belege nicht ausreichen, weckt den Verdacht der Vertuschung. „Ich glaube es kann nicht sein, dass irgendwo auf der Welt ein Notausgang abgeschlossen ist, auf Anordnung der Polizei. Und dass man es so vertuscht. Und das ist nicht nur Staatsversagen, das ist Staatsterrorismus.“

Menschen zweiter Klasse

Für Wut und Trauer sorgt das Verhalten der Behörden gegenüber der Familie Kurtović nach dem Anschlag. Acht Tage blieb die Familie über den Aufenthalt des Leichnams im Ungewissen, der indessen ohne Einverständnis obduziert wurde. Der eigentlich blonde und blauäugige Hamza Kurtović wird bei der Leichenbeschauung als „orientalisch-südländisch“ beschrieben. Ein im Tod fortgeführter Rassismus, wegen eines ‚falschen‘ Nachnamen. „Ich bin 1974 hier geboren. Ich kenne nichts anderes. Ich bin deutscher Staatsbürger.“ Trotzdem schickte man der Familie nach dem Attentat einen Ausländerbeirat, einen Migrationsbeauftragten und einen Dolmetscher. „Also muss ich Schmidt, oder Müller heißen. Also soll ich mir die Haare blond färben? Das ist so. Das ist die Realität. Einmal Kanacke, immer Kanacke.“ Ein Gefühl ewiger Fremdheit. Wegen eines ‚falschen‘ Nachnahmen.

Seit dem Anschlag leben die Kurtovićs in demselben Wohnhaus in Hanau-Kesselstadt, das keine 300 Meter Luftlinie vom Haus des Täters und dessen Vater entfernt ist. Gegen den wurden seit dem Anschlag Vorwürfe wegen massiver Beleidigungen und Einschüchterungsversuche gegenüber Angehörigen und Bewohner*innen erhoben. In mehreren Fällen ermittelt die Staatsanwaltschaft. Teilnehmer*innen einer Mahnwache, darunter Opferangehörige, hat er als „wilde Fremde“ bezeichnet. Das öffentliche Gedenken verdammt er in einem Brief an die Behörden als „Volksverhetzung“. Die Schuld seines Sohnes leugnet er vehement, steht ihm an rassistischem Gedankengut in Nichts nach. Dennoch wurden die Opferfamilien einen Monat nach dem Anschlag in einer Gefährderansprache als potentielle Gefährder für den Vater eingestuft.  Wieso bekommen wir die Gefährderansprache, wir sollen keine Blutrache üben. Ich habe niemandem gedroht, ich wurde bedroht.” Betroffene werden zu Tätern gemacht. „Entbehrlich“ beschreibt am besten die da mitschwingende Botschaft an Menschen mit Migrationsgeschichte.

Die Spitze eines Eisberges

„Bittere Realität“ ist, dass der Anschlag in Hanau kein Einzelfall, sondern Kontinuität ist: Der Mord an Walter Lübcke, NSU, NSU 2.0, Hanau. „Das kommt nicht aus dem Nichts. Irgendwo hat es seine Ursachen.“ Dafür spricht der Umgang mit Opfern und Betroffenen. Dazu zählt rassistisches Fehlverhalten von ermittelnden Polizisten. Denn am Tatabend waren 13 der 19 eingesetzten SEK-Beamten Mitglieder rechtsextremer Chatgruppen. „Wie viel Prozent sind das? 70 Prozent.“ Neben dem Polizisten, der Hamza Kurtović als ‚orientalisch-südländisch‘ bezeichnet, soll ein anderer über den ermordeten Vili Viorel Păun geäußert haben, er hätte nicht geglaubt, dass ein ‚Zigeuner‘ Zivilcourage hat. Der 22-Jährige wurde bei dem selbstlosen Versuch den Täter aufzuhalten getötet. „Und jetzt ist meine Frage: Wie hoch ist die Möglichkeit, an einen anständigen Polizisten zu kommen, wenn irgendwas passiert, wie hoch ist die Möglichkeit? Liegt die bei 30 Prozent?“

Die schwarz-grüne Landesregierung in Hessen hat die dortige Polizei vom Informationsfreiheitsgesetz enthoben, die daher ihre Arbeit nicht transparent machen muss. Wo die hessische Polizeiführung und Landesregierung bis heute das Vorgehen in Hanau nach außen verteidigen, kritisieren in einem internen Polizeibericht selbst Beamte die Polizeistrukturen des Tatabends. So verwundert es nicht, dass Armin Kurtovićs Vertrauen bröckelt. „Die Ermittlungsbehörden sind neutral, die müssen neutral bleiben. In Deutschland ist das was anderes.“ Und Hoffnung auf Gerechtigkeit versiegt. „Was habe ich zu erwarten? Nichts.“

Dennoch ruhen die Angehörigen wie Kurtović entgegen allen Rechtfertigungen nicht. Zumindest so lange, wie um das rassistische Attentat weiter fehlende personelle und juristische Konsequenzen klaffen. Verantwortliche Personen müssen ihre Verantwortung übernehmen, anstatt Ausweichmanöver zu betreiben. „Weil wenn es folgenlos bleibt, ist es ja vorprogrammiert, dass es nochmal kommt.“ Sonst kann sich rechtsextreme Gewalt nur weiter ungehindert einnisten. „Es ist doch die Bringschuld des Staates, die Sachen aufzuklären. Dafür sind die ja da. Wozu sind denn die Behörden da? Also in Hanau, was ich gesehen hab, waren die nur damit beschäftigt, alles unter den Teppich zu kehren.“  

-Wir danken Armin Kurtović für das Interview und seinen Einsatz zur Aufklärung der Tatumstände.-


Illustration: Klara Heller