Home Gegen das Vergessen: Halle und Hanau Rede zur Filmvorführung „Bestandsaufnahme”

Rede zur Filmvorführung „Bestandsaufnahme”

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Im Zuge der Recherchereise Halle/Hanau entstand ein Dokumentarfilm. Die Premiere fand am 17. Juli in einem Hörsal der Humboldt-Universität statt. Regisseurin Malin Kraus leitete mit dieser Rede die Vorführung ein.

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Gäst*innen, Freund*innen und Familien, 

wir freuen uns sehr, Sie heute hier im Hörsaal der Humboldt Universität begrüßen zu dürfen. Wir, das ist nicht nur die Chefredaktion, bestehend aus Büşra Koç, Leonard Hennersdorf und mir, Malin Kraus, sondern vor allem das gesamte Team, das dieses Projekt auf die Beine gestellt hat: Gizem Önder und Daphne Preston-Kendal für filmische Aufnahmen, Nabieha Ebedat, Elena Slany-Garcia, Elisabeth Knetsch und Felicitas Hock als Redakteurinnen.
Gemeinsam haben wir uns ein halbes Jahr auf das sogenannte Inlandsprojekt vorbereitet, in dessen Ergebnis nicht nur ein Print-Heft mit dem Titel “Gegen das Vergessen”, sondern auch ein Dokumentarfilm steht.
Angefangen hat die Recherche dabei mit einem ganz anderen Vorhaben. Anlässlich der Gedenkdemonstrationen in Berlin zu Hanau am 19. Februar 2023 haben Büşra Koç und ich einen Beitrag geschrieben, der sich um Erinnerungskultur dreht. Die darin offen formuliert Frage, wie Erinnerungskultur aussehen kann und welche Rolle Jahrestage dabei spielen, haben wir in der Redaktion, gemeinsam mit  Leonard Hennersdorf, zu einer Projektidee entwickelt, von der wir kaum ahnten, welche Dimension sie annehmen würde. Denn wir haben uns eine Arbeit vorgestellt, das uns als Journalist*innen versieren würde, doch haben wir Erfahrungen gesammelt, die uns vor allem uns selbst neu sensibilisiert haben. 

Geplant haben wir eine dreitägige Recherchereise nach Halle und Hanau, die sich mit der Frage auseinandersetzt, wie Erinnern und Gedenken im Sinne einer Bestandsaufnahme erfolgen kann. Interviews mit Betroffenen der Anschläge und Angehörigen der Opfer sollten die Grundlage dieser Recherche stellen, flankiert von Gesprächen und Recherchen mit Expert*innen, Künstler*innen und Anwohner*innen beider Städte. Unser dokumentarisches Vorhaben: Räume bieten und Räume erkunden. Topografisch und gedanklich abstecken, was zur Bestandsaufnahme wichtig ist.
Noch während der Planung des Projekts sind wir dann zu dem Schluss gekommen, dass wir weitaus mehr Kapazitäten benötigen, als anfangs gedacht. Dank der Förderungen durch die Humboldt-Universitäts-Gesellschaft und der Stiftung Presse-Haus konnten wir mit insgesamt acht Personen das Projektteam stellen, das sich schon im Vorfeld der Reise intensiven Recherchen, Vorbereitungen und Interviews widmete. 

Die Dramaturgie des Films folgt ebendieser Frage nach dem Raum; Räume, wie wir sie wahrnehmen und betreten können, aber auch konzipieren oder für uns imaginiert werden. Die Diskrepanz zwischen denjenigen, die Raum brauchen, aber keinen bekommen und denjenigen, die die Räume bewusst torpedieren, begleitet leitmotivisch die filmische Bearbeitung. Der öffentliche Raum beider Städte, Halle und Hanau wird zum Ausgangspunkt der Dokumentation, begleitet die Zuschauenden und fungiert als Rückversicherung zwischen den einzelnen Interviewepisoden.
Wir finden dabei  Räume nicht nur als lokale Bestimmungen vor, sondern vor allem mit denjenigen Stimmen gefüllt, für die sie als Safe Space gelten, als Erinnerungsort und als Zuhause. Der Dokumentarfilm setzt auf Entschlüsselung eben dieser Eindrücke, die wir vor Ort, in Gesprächen und in Blicken, sammeln konnten. 

Während uns im Film Gedanken und Erinnerungen an die Attentate von Halle und Hanau geschildert wurden, möchte ich hier auf eine Szene der Recherchereise hinweisen, die uns in besonderer Weise geprägt hat. Am ersten Abend in Hanau haben wir beim Warten auf dem Heumarkt zwei junge Männer getroffen, die wir um ihre Bestandsaufnahme gebeten haben. Sie antworteten uns kurz, Sie seien mit Überlebenden des Anschlags befreundet, fragen übers Handy, ob wir mitkommen dürfen. Wir können sie begleiten auf ihrem Weg zum Elixier Kiosk, nur ein paar Querstraßen vom Heumarkt entfernt. Dort angekomme stellen wir uns vor, erzählen von unserer Absicht einen Film drehen zu wollen, in dem Stimmen Gehör verliehen wird und Räume dokumentarisch erfasst werden. Wir erwarteten Zurückhaltung, rechneten nicht mit der Herzlichkeit, mit der wir, aber vor allem die Idee empfangen wurden. 

Wir unterhalten uns an dem Abend lange über das Leben in Hanau, die Zeit nach dem Anschlag und das Gefühl des Zusammenhalts der Menschen untereinander. Die Kamera haben wir nicht angemacht.
So hören wir im Film mitunter nicht das, was wir sehen, sehen nicht, was wir hören. Die Künstlichkeit des Schnittes spiegelt unsere Eindrücke, die journalistische Arbeit, aber vor allem den Blick der Bestandsaufnahme wider in der Multiperspektivität unserer Gesellschaft. 

Wir widmen diesen Film den von den Attentätern Getöteten, die Ausgangspunkt und Ende unserer Dokumentation bilden, ebenso wie denjenigen Betroffenen, die um Anerkennung und Gerechtigkeit ihrer Fälle kämpfen. Der Film verfolgt nicht den Anspruch einer Zusammenfassung dessen, was in Halle und Hanau passiert ist, sondern stellt dar, was wir finden, wenn wir unanlässlich eines Jahrestages darauf schauen, wie in Halle und Hanau mit der Last der Attentate umgegangen wird. Wie sich Raum und Stimmen verändert haben.

Wir bedanken uns sehr bei allen Interviewpartner*innen, für die Herzlichkeit, mit der wir aufgenommen wurden und die Möglichkeiten als Journalist*innen einerseits, als Menschen andererseits zu wachsen.

Herzlichen Dank.


Illustration: Franziska Auffenberg