Max Privorozki ist seit 24 Jahren Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde in Halle. Als solcher erlebte er den Anschlag am 09. Oktober 2019 und setzt sich seitdem für die Erinnerung, Sichtbarkeit und konkrete Maßnahmen ein. Der Mathematiker und Informatiker aus Kiew erzählt im Gespräch mit der UnAuf von der Erinnerung an den Anschlag und wie dieser die Jüdische Gemeinde und die Stadt verändert hat.

UnAuf: Herr Privorozki, erzählen Sie uns von der aktuellen Lage in der Jüdischen Gemeinde von Halle. Sind auch Sie vom bundesweiten Mitgliederschwund betroffen? Wie ist die Atmosphäre in der Gemeinde seit dem Anschlag?

Max Privorozki: Die Hallesche Gemeinde ist eine Ausnahme. Wir haben relativ viele Kinder in der Gemeinde. Relativ viele, das bedeutet im Vergleich zu manchen anderen Gemeinden, die ich kenne. Wir haben in Halle 80 Kinder, ich glaube, sogar ein bisschen mehr. Insgesamt sind wir 520 Mitglieder.

Zur Atmosphäre: Nach dem Anschlag gab es keinen einzigen Mensch, der gesagt hat, „ich komme nicht mehr in die Synagoge“. Bei der Mitgliederversammlung im Dezember 2019 war der Anschlag direkt kein Thema. Das Thema war Sicherheit. Und was Sicherheit betrifft: Unsere Synagoge und unsere Gemeinde werden leider zur Festung gemacht. Aber das ist ein Projekt, das vom Land initiiert und bezahlt wurde, was das Landeskriminalamt uns empfohlen hat. Wir sind keine Fachleute, deswegen ist es richtig, dass wir die Empfehlungen des LKA ernst nehmen und ihnen Folge leisten. Ich darf nicht sagen, was die Maßnahmen sind, aber die sind wirklich sehr ernst.

Was für einen Platz hat der Anschlag in Ihrer Gemeinde? Wie wird bei Ihnen daran erinnert?

Richtig, es geht um die Gemeinde. Denn in der Stadt gibt es auch andere Rituale nach dem Anschlag, außerhalb der Gemeinde. Wir haben damit hier schon einige Auseinandersetzungen gehabt. Dieser Anschlag wurde leider von vielen politisch instrumentalisiert. Das waren politische Gegner, meistens AfD, aber auch rechte Parteien allgemein. Es gab Kommentare von AfD-Politikern, nicht aus Halle, sondern aus Leipzig – einer hat geschrieben, dass er diese Aufregung nicht verstehe, wegen dieser Synagoge oder wegen Antisemitismus, es seien doch zwei „Deutsche“ ermordet worden und Juden wurden verschont. Das ist ein Zeichen dafür, dass dieser Politiker Juden nicht für Deutsche hält.

Ich plädiere dafür, dass man versucht, Erinnerung und Trauer von Politik zu trennen. Wir machen den Jahrestag, den 09. Oktober, zum lokalen Gedenktag. Es gibt auch einen spezifischen Gedenktag in meiner Heimatstadt Kiew, das ist der 29. September. Das ist ein Tag, an dem die Nazis das Babyn Yar-Massaker verübt haben, das ist in Deutschland weniger bekannt. Und genauso ist der 09.10. jetzt ein Gedenktag in der Stadt Halle geworden. Wir organisieren jährlich am 09.10. eine Gedenkveranstaltung neben dem Denkmal. Wir machen nach der Gedenkveranstaltung für zwei, drei Stunden den Hof frei, wenn es kein jüdischer Feiertag ist, können wir auch die Synagoge öffnen. Und dann können alle, die es möchten, in die Synagoge kommen, sowohl das Denkmal als auch die Synagoge anschauen.

Wir haben auch dafür plädiert, dass die Stadt Halle etwas Ähnliches, wie es in Israel üblich ist, organisiert. Einen Gedenktag, dass zu einer bestimmten Zeit, also um 12:03 Uhr (die Zeit, als der Anschlag angefangen hat) alle Straßenbahnen und alle Busse für eine Minute anhalten. Außerdem wollen wir, dass in allen Schulen der Stadt Halle um 12:03 Uhr eine Schweigeminute organisiert wird, selbstverständlich mit Erklärung, weshalb.

Inwiefern gibt es Solidarität und Zusammenarbeit nach dem Anschlag von Halle mit anderen Gruppen, denen der gleiche Hass widerfahren ist? Zum Beispiel den Brüdern Tekin, denen der Tekiez-Dönerladen gehörte?

Am Anfang gab es mehr Kontakte und mehr Zusammenarbeit. Unsere Gemeinde hat zum Beispiel für 1000 Euro Gutscheine gekauft für den Tekiez-Imbiss, wo Kevin S. ermordet wurde, von diesen Gutscheinen wurde aber kein Einziger eingelöst. Sie wurden nicht eingelöst, weil der Imbiss dann zu war, also war es eigentlich eine Spende. Aber mein Gutschein liegt bei mir und irgendwann komme ich und esse etwas Gutes dort. Wir haben auch andere Gruppen unterstützt, zum Beispiel die Jüdische Studentenbewegung,  die auch sehr geholfen, viel Geld gesammelt hat. Ich bin stolz auf diese jungen Leute, die eigentlich nicht aus Halle kommen, und die eine solche Initiative gestartet haben.

Danach allerdings gab es unterschiedliche Meinungen, was den Ablauf von Erinnerung betrifft. Zum Beispiel die Auseinandersetzung mit Organisationen, die mit dem Anschlag gar nichts zu tun haben, und nur die politische Dividende haben möchten. Das war für mich unmöglich. Ich war selber während des Anschlages in der Synagoge und ich betrachte das ein bisschen anders als Menschen, die sich auch „Betroffene“ nennen, aber eigentlich nicht betroffen sind.

Aber was Tekiez angeht, also den Imbiss, habe ich auch für sie sehr große Solidarität. Die wurden ja auch angegriffen und es war genauso wie bei uns ein Zufall, dass keiner von ihnen ermordet wurde, sie hatten ja keine Kamera und keine Tür, die sie geschützt hätte.

Wir sind irgendwie eine Gemeinschaft geworden, eine sehr große Familie, in der Familie lieben einander nicht alle und nicht alle sind Freunde, aber wir sind trotzdem eine Familie von Menschen, die etwas gemeinsam haben: Nämlich, dass wir alle angegriffen wurden.

Es wurde ja im Prozess von vielen Betroffenen die Arbeit der Polizei sehr kritisiert. Gibt es mittlerweile bessere Zusammenarbeit mit den Sicherheitskräften, auch sensiblere Zusammenarbeit, auch mit der Politik?

Die zweite Frage ist ganz einfach, es gibt wesentlich bessere Zusammenarbeit. Das ist nicht vergleichbar mit dem Zustand davor. Vor und nach dem Anschlag, das sind zwei verschiedene Welten.

Im Prozess habe ich die Polizei allerdings fast nicht kritisiert. Ich war sehr zurückhaltend. Nicht an den ersten vier Tagen nach dem Anschlag, da war es ganz anders. Ich habe aber verstanden, dass es falsch ist, die Polizei für alles verantwortlich zu machen. Ich habe jetzt auch wesentlich mehr Kenntnisse über Polizeiarbeit und weiß, dass die Polizei genauso wie wir alle ein Bestandteil der Gesellschaft ist. Und wenn in der Gesellschaft etwas schief läuft, warum sollte das bei der Polizei dann keine Konsequenzen haben?

Kritik an der Politik ist etwas anderes. Es wurde dort sehr vieles sehr falsch gemacht, seit vielen Jahren. Ich kann nicht sagen, dass die Fehler der Politik korrigiert wurden. Der Hauptfehler, der nach meiner Auffassung gemacht wurde, ist nicht bei der Polizei, sondern der Bildung. Sparen beim Bildungssystem ist etwas, was strategisch sehr viel Schaden anrichtet. Sparen bei Sicherheitsbehörden richtet sofort Schaden an – es kommt ein Anschlag, die Polizei war nicht vor Ort, dann kommen viele Medien und so weiter. Sparen beim Bildungssystem ist nicht sofort sichtbar, dort gibt es keine Ereignisse wie einen Anschlag in Hanau oder Halle. Der Schaden dort ist langsam.

Was waren Ihre Eindrücke beim Gedenken an den Anschlag von Hanau?

An dem Tag, an dem das passiert ist, war ich auf dem Marktplatz in Halle. Auf diesem Marktplatz haben Hallenser ganz spontan eine Gedenkstätte organisiert. Es gab keine organisierte Kundgebung, aber dort waren viele Menschen und ich habe dort auch gesprochen. Ich selber war auch Opfer von Hass, von Hass gegen Menschen. Hier in Halle war es Hass gegen Juden und gegen Ausländer, in Hanau war es Hass gegen Ausländer, vielleicht auch gegen Muslime. Das ist Hass, das ist das Ergebnis von Hass. Das ist genauso wie Hass gegen Homosexuelle, wie in Dresden, als zwei Menschen ermordet wurden.

Wie können antisemitische Strukturen bekämpft werden, ohne Rassismus und Antisemitismus gegeneinander auszuspielen?

Man sollte nicht über Antisemitismus oder Rassismus reden, als politische Auseinandersetzung. Das Problem liegt an diesem Hass selbst. Deswegen gefällt mir das Wort Toleranz sehr. Ich betrachte das nicht in dem Sinne, dass wir uns alle lieben müssen, Muslime, Juden, Christen, Agnostiker, Baptisten, Hinduisten, Religionen, Hautfarben, dass wir alle eine Familie sein müssen, das möchte ich gar nicht. Ich möchte nur, dass akzeptiert und wahrgenommen wird, dass es eine jüdische Gemeinde gibt, dass es eine muslimische Gemeinde gibt, dass es Menschen gibt, die homosexuell sind, dass es Menschen gibt, die nicht homosexuell sind, dass es Polizisten gibt, die nur deswegen gehasst werden, weil sie Polizisten sind. Noch einmal: Hass ist das Problem. Hass als Gefühl. Wie man dieses Problem lösen kann, weiß ich nicht. Hätte ich das gewusst, würde ich kandidieren und das als Bundeskanzler lösen. Aber ich weiß es nicht. Das ist ein Problem der Menschheit und nicht nur in Deutschland, sondern überall. 


Illustration: Franziska Auffenberg