„Hab keine Angst, erzähl alles!”, ist der Satz der Großmutter der Rabbinerin Rebecca Blady. Die Enkelin hat den Anschlag am 9. Oktober 2019 in Halle überlebt, die Oma die Shoah. Er ist auch der Titel des Buchs der jüdisch-deutschen Autorin Esther Dischereit, die den Prozess in Magdeburg gegen den Attentäter von Halle begleitete.

In ihrem Buch hält Dischereit dezidiert die Stimmen der Betroffenen fest und stellt sie nicht als Opfer, sondern als Zeug*innen dar, die die Narration im Gerichtsprozess selbst bestimmen. Neben den Aussagen der Überlebenden sammeln sich Plädoyers der Nebenklagenvertreterinnen und -vertreter und Berichte von Sachverständigen. Damit sind nicht alle wichtigen Dokumente abgebildet, doch die Vielfalt an Dokumenten – von Statements bis hin zu Interviews – ermöglicht nicht nur einen tieferen Einblick in die Solidaritätsstrukturen zwischen den Überlebenden, die sich unter anderem während des Prozesses ergaben, sondern gibt ihnen auch eine Stimme. Und sie gibt der Geschichte der Großmutter der Rabbinerin Rebecca Blady, die Auschwitz überlebte, einen Raum.

Indem Blady in ihrer Zeugenaussage ein tief sitzendes Familientrauma zur Sprache bringt, macht sie eine Allegorie auf. Eine, die dem Gericht zeigen soll, wie die Shoah zwar vorbei, aber weiterhin wirksam ist. Im Zuge ihrer Evakuierung aus der Synagoge am 19. Oktober 2019 konnte Blady die Babysitterin ihrer 15 Monate alten Tochter lange Zeit nicht erreichen, war von ihrer Tochter für unabsehbare Zeit getrennt und verfiel in Panik. Schließlich meldete sich die Babysitterin und kam in der Synagoge an. Doch erst als ihr Mann der Polizei drohte, dass er die Synagoge nicht verlassen würde, ließ die Polizei zu, dass die Babysitterin der Mutter die Tochter durch die Absperrung übergab.

Das vererbte Familientrauma äußerte sich in diesem Fall in der Geschichte der über 90-jährigen Großmutter Olga von Blady, die als Kind von dem KZ-Arzt Josef Mengele an der Rampe des KZ Auschwitz von ihrer Mutter getrennt wurde und zusehen musste, wie die Mutter niedergeschlagen wurde. Nur die Tochter überlebte. 

Interessant ist in diesem Zusammenhang der Begriff der Zeug*innenschaft. Für Dischereit dient der Gerichtssaal nicht nur der Wahrheitsfindung, sondern auch der Heilung der Betroffenen. In ihrer Zeugenschaft übernimmt Rebecca Blady stellvertretend für ihre Großmutter, die bis zu diesem Zeitpunkt nie vor einem internationalen oder deutschen Gericht davon sprechen konnte, welche Gräueltaten ihr und ihrer Familie in der Shoah angetan wurden, die Anklage. Damit spricht die Großmutter durch sie und ein kollektives Schicksal wird vergegenwärtigt.

Die Zeug*innen sprachen nicht nur darüber, was geschah, sondern bekannten sich auch zu ihrem Jüdischsein. Manche sangen in jiddischer Sprache und andere sprachen Gebete auf Hebräisch. Schon im Vorwort offenbart sich das Vermächtnis dieser Dokumentation: „Das Zeugnis darüber, was ist und was war, ist das Zeugnis darüber, dass die- oder derjenige, der zeugt, da ist, existiert oder existierte.” Das ist der Autorin gelungen: über den Fall zu berichten, ohne sich als Zeugin der Zeug*innen in den Vordergrund zu rücken.


Foto: Gizem Önder