Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit ist ein sinnvoller Containerbegriff, um verschiedene Arten von Hass zu beschreiben – aber er wird selten benutzt. Besser bekannt sind Antisemitismus oder Rassismus (sowie viele weitere) – aber beide Begriffe sollten nicht vermengt werden und haben einen anderen Gegenstand. 

Antisemitismus ist eine „bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann“ – so die Definition der International Holocaust Remembrance Alliance. Besonders präzise ist das nicht ausgedrückt. Zuerst beginnt Antisemitismus als ein Glaube an etwas, was nicht existiert. Antisemit*innen glauben schon seit tausenden Jahren an zwei unterschiedliche Dinge: Dass Jüd*innen unglaublich mächtig sind und die Welt beherrschen. Aber auch, dass sie arm und unterentwickelt sind. Im Jahr der Pest, 1348, erlebte Europa einen ersten antisemitischen Sturm: Jüd*innen wurden dafür verantwortlich gemacht, dass die Pest über Europa gekommen sei (sie hätten Brunnen vergiftet, Ritualmorde begangen, das Essen verzaubert) und dafür in großer Menge ermordet. Wie beispielsweise in Strasbourg, als 1349 hunderte Juden und Jüdinnen vom wütenden Mob verbrannt wurden.

Ähnliche Vorwürfe kamen immer wieder auf, immer auf dieselbe Weise: Wer einmal als Jude oder Jüdin zur Welt kam, konnte sich von diesem Status niemals lösen. Richtig in Gang kam der Hass auf Juden und Jüdinnen im 19. Jahrhundert, als man begann, die Welt darwinistisch und biologisch zu definieren. Bekannte Antisemiten wie Richard Wagner oder Gobineau stärkten die Idee, dass Juden und Jüdinnen auf der ganzen Welt eine Gruppe bildeten, egal wie groß die Unterschiede auf den ersten Blick erscheinen mochten. Als der zarische Geheimdienst vor der Jahrhundertwende dann die „Protokolle der Weisen von Zion“ veröffentlichte, meinten alle Antisemiten, den Beweis für die „jüdische Weltverschwörung“ in Händen zu halten: die gefälschten Protokolle sollen von einer Begegnung von führenden Rabbinern auf dem Friedhof von Prag berichten, wo die Übernahme der Weltherrschaft beschlossen worden sei. Diese und andere Stereotype wurden immer und immer wieder wiederholt, bis sie schließlich in eines der schlimmsten Verbrechen der Menschheit mündeten – den Holocaust. Gewalt gegen Juden und Jüdinnen, aber auch gegen Gegenstände, die mit ihnen assoziiert werden, ist deswegen auch immer Teil von Antisemitismus.

Verwandt, nicht verwechselt

Beim Antisemitismus wird vorausgesetzt, dass alle Juden und Jüdinnen irgendwie verbindende Eigenschaften haben. Antisemit*innen erfinden also eine Gruppe, die es in der Form gar nicht gibt. Ihr Weltbild ist konspirativ. Rassismus baut auf einer ähnlichen Ideologie auf.

Rassist*innen stellen sich vor, dass die Menschheit in „Rassen“ aufgeteilt sei. Sie definieren „Rassen“ dabei aber nicht über Identität oder Zugehörigkeitsgefühl, sondern über biologische Eigenschaften. So nahm man jahrhundertelang an, dass alle Menschen, die keine weiße Hautfarbe hatten, auch einer anderen „Rasse“ angehören müssten. Allerdings wurde dies schon lange von der Wissenschaft wiederlegt: Wenn die genetische Diversität innerhalb einer Gruppe genauso groß ist wie außerhalb, ist die Gruppenzuschreibung sinnlos. Das macht auch die Idee einer „Rasse“ sinnlos.

Zugehörigkeit zu einer „Rasse“ – so die Amadeu Antonio Stiftung – sehen Rassist*innen aber nicht nur in der Hautfarbe, auch „Name, […] Kultur, Herkunft und Religion“ sind für Rassist*innen bereits ausschlaggebend. Rassist*innen halten jede andere „Rasse“ außer ihrer eigenen für minderwertig, manchmal in Abstufungen. Auch Rassismus gab es bereits vor dem 19. Jahrhundert, aber er veränderte sich grundlegend durch Biologie und Medizin. Auf einmal meinten Rassist*innen, dass es genetische Beweise für die Existenz von „Rassen“ gebe. Das erhärtete das Konzept zusätzlich.

Was am Rassismus aber besonders ist, ist sein System. Kolonialreiche wie das britische Empire, die französischen Kolonien, Spanien, Portugal, Belgien, Deutschland, Russland, die USA, alle bauten ihre Ordnung auf Rassismus auf. Die Belgier zum Beispiel beförderten bestimmte „Rassen“ in Verwaltungspositionen im Kongo und später in Ruanda (einer der Gründe für den dortigen Völkermord 1994). 

„System“ bedeutet, dass sich nur noch die Minderheit absichtlich rassistisch verhält. Die große Mehrheit ist unterbewusst Teil des rassistischen Systems, das mittlerweile auf der ganzen Welt existiert. In manchen Ländern ist es sofort offenbar, in anderen ganz subtil. 

Warum wir trennen müssen

Rassismus und Antisemitismus sind Unterformen des „Othering“, dem Versuch, andere Gruppen von der eigenen Gruppe abzugrenzen. Ein anderer Begriff ist „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“. Zu beiden gehört noch viel mehr als nur Antisemitismus und Rassismus.

Aber von der Familie, aus der beide Ideologien stammen, abgesehen, sind sie doch verschieden. Antisemit*innen halten Juden und Jüdinnen zugleich für übermächtig und minderwertig. Rassist*innen denken, dass anders aussehende Menschen allein minderwertig sind. Beide Ideologien sind heute noch mächtig, aber Rassismus ist noch viel mehr eine Frage des Systems als Antisemitismus. Das war früher anders – insbesondere in Deutschland und Frankreich war in der Gesellschaft Antisemitismus vor 1945 weitgehend normalisiert. Durch die Verurteilung des Holocaust veränderte sich viel (wenn auch bei weitem nicht alles). Antisemitismus ist nicht mehr normal, und wer sich antisemitisch äußert, muss sich dem Vorwurf aussetzen, Nazis das Wort zu reden. Ein solcher Vorwurf wiegt glücklicherweise in weiten Teilen der Welt schwer. Das System Rassismus bleibt hingegen nahezu unerschüttert.

Unterschiedlich sind auch die Gruppen, die von den beiden Ideologien betroffen sind. Juden und Jüdinnen mussten vielleicht nie in ihrem Leben Rassismus erleben, von Rassismus betroffene Menschen kennen hingegen keinen Antisemitismus. Es gibt Ausnahmen – Angehörige der Beta Israel, äthiopischer Juden und Jüdinnen zum Beispiel, klagen schon seit längerer Zeit darüber, von Rassismus und Antisemitismus gleichermaßen betroffen zu sein.

Was das für Halle und Hanau bedeutet

So wie sich Antisemitismus und Rassismus ähneln, ähneln sich auch die Anschläge von Halle und Hanau- vor allem ihre Täter. Beide waren motiviert durch beide Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Das zeigte sich auf besonders grausame Weise in Halle – der Täter schaffte es nicht in die Synagoge, aber als er Menschen sah, die seinem Begriff von Rassismus entsprachen, ging er auf sie los. Bei ihm vermengten sich aber nicht nur Antisemitismus und Rassismus. Mit dem Glauben, dass Juden und Jüdinnen die Welt beherrschen, ist auch der Hass gegen Feminismus verbunden, oder Frauen im Allgemeinen. Als „Inspiration” nannte der Attentäter auch den Anschlag von Christchurch in Neuseeland. Auch der dortige Täter erklärte sich zum Anhänger der Verschwörungstheorie des „Great Replacement”, also der Idee, dass eine „jüdische Weltverschwörung” die „weiße” Bevölkerung mittels Migration „ersetzen” wolle. Hass gegen alle möglichen Gruppen verbindet sich in diesem Weltbild. 

So wie sich Antisemitismus und Rassismus unterscheiden, unterscheiden sich auch die Anschläge von Halle und Hanau. Alle Ermordeten in Hanau waren Opfer von Rassismus – die Überlebenden sind damit auch Betroffene dieses Rassismus. Die jüdischen deutschen Überlebenden von Halle sind betroffen vom Antisemitismus des Täters. Sie mussten keine geringeren Schmerzen als die Betroffenen in Hanau erdulden – aber zur selben Gruppe gehören sie dennoch nicht.

Was sie eint, ist vielmehr eine Schicksalsgemeinschaft: beide Gruppen waren einer gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit ausgesetzt, die ihnen das Leben gekostet hat oder hätte.


Illustration: Franziska Auffenberg