Im Mai wurden das zweite Jahr in Folge, entgegen universell geltender Grundrechte, fast alle Veranstaltungen und Demos zum Nakba-Gedenken in Berlin verboten. Zugleich lebt hier eine der größten palästinensischen Communities in der Diaspora weltweit. Anti-palästinensischer Rassismus ist in Deutschland keine Neuerscheinung – der Umgang mit der jüngsten Kundgebung zum Nakba-Gedenken ist ein Beispiel von vielen.

Nakba ist arabisch für Katastrophe und bezeichnet die Flucht und Vertreibung der rund 750.000 Palästinenser*innen 1948 aus dem historischen Palästina unter britischem Mandat, denen bis heute das Recht auf Rückkehr verwehrt wird. Damals wurden weitere 15.000 Palästinenser*innen ermordet und 531 Dörfer im Zuge der Staatsgründung Israels zerstört.  

Mit Demonstrationen und Kundgebungen wird versucht, über die Nakba aufzuklären und zu erinnern – so auch am 20. Mai in Berlin. Immer wieder werden diese allerdings verboten oder aufgelöst, was auch in diesem Fall geschah. Die Berliner Polizei begründete die Gedenkverbote in einer Stellungnahme, die allerdings mittlerweile online nicht mehr zu finden ist. Durch Personen nahöstlicher, muslimisch geprägter Herkunft könnte es zu Volksverhetzung, Gewaltaufrufen und antisemitischen Äußerungen kommen.  Zurzeit herrsche „bei dieser Klientel eine deutlich aggressive Grundhaltung“ vor. Des Weiteren werde eine erhöhte Emotionalität erwartet.

Auf dem Oranienplatz

Die Polizei reproduziert hier das tief rassifizierte Stigma des “überemotionalen, aggressiven Südländers” und unterschlägt damit, dass Demonstrationen meistens von starken Emotionen geprägt sind, da es sich bei Protest um eine Aktion zur Artikulation von Widerspruch und zur Durchsetzung eines gesellschaftlichen oder politischen Anliegens handelt. Überdies wird die Diversität des palästinasolidarischen Aktivismus auf eine homogene arabisch-muslimische Masse reduziert und kriminalisiert. Das meint auch Wieland Hoban, Komponist, Autor und Vorsitzender der Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost. Dieser wurde 2019 vom Zentralrat der Juden in Deutschland Nähe zu “Boycott, Divestment and Sanctions”, BDS, vorgeworfen. Die “Jüdische Stimme” bezeichnete die Debatte darum als der Komplexität unangemessen. In einem offenen Brief sprachen sich  2019 100 jüdische Intellektuelle, unter anderem Noam Chomsky, Judith Butler und Eva Illouz gegen die Anfeindungen gegen die „Jüdische Stimme“ aus. Der Verein veranstaltete die Kundgebung am 20. Mai auf dem Oranienplatz und war damit die einzige Nakba-Veranstaltung, die von den Berliner Behörden nicht verboten wurde. Dennoch wurde sie, trotz bereitwilliger Kooperation mit der Polizei, zur Auflösung gezwungen.  Dabei ist es auch zu gewaltsamen Verhaftungen gekommen. Was sich dahinter verberge, sei schlicht anti-palästinensischer Rassismus, erklärt Hoban. Es werde eine Verbindung zu rassistischen-orientalistischen Menschenbildern hergestellt, um das Anliegen zu delegitimieren. 

Die von der Polizei im Nachgang verbreiteten Informationen über den Ablauf der Kundgebung entsprachen nach Einschätzung der Veranstalter*innen nicht der Wahrheit. Laut Polizei sei es zu antisemitischen Übergriffen gegen die jüdischen Initiator*innen gekommen, „Palästinenser-Anhänger“ hätten die Kundgebung des jüdischen Vereins massiv gestört. In der offiziellen Stellungnahme zur Kundgebung stellen die vermeintlich Bedrohten klar: „Teilnehmenden wurde unterstellt, unsere Kundgebung gestört zu haben, während sie in Wahrheit ein Teil von ihr waren.“ Im Gespräch mit der UnAuf beschreibt Wieland Hoban die “absurde  Situation, dass man jüdische Protestierende niederschlägt und festnimmt, um sie zu beschützen vor den ‚bösen Palästinensern‘“. Man sehe die Verantwortung auch bei der Presse, die die „Lügen der Berliner Polizei unverändert und zahlreich” abgedruckt habe. Darüber hinaus hätten sich während des gesamten Zeitraums schwarz gekleidete Kameraleute, trotz wiederholter Anfrage zur Klärung ihrer Tätigkeit, nicht dem Pressekodex entsprechend zu erkennen gegeben. Laut Hoban gehe es gar nicht um Antisemitismusbekämpfung, sondern um das Silencing des Einsatzes für Menschenrechte und gegen Verstöße internationalen Völkerrechts in Israel/ Palästina. 

Das zeigte sich auch am offiziellen Anlass zur Auflösung der Demonstration. Es wurde der Spruch „From the river to the sea – Palestine will be free“ gerufen. Hoban sagt, es werde immer wieder versucht zu vermitteln, dass der Spruch verboten wäre, dabei sei er es gar nicht. „Warum auch? Es ist ja eine Frage der Menschenrechte.“ Der Vorsitzende der “Jüdischen Stimme” erkenne keinen Antisemitismus in diesem Ruf und sehe ihn stattdessen als Aufruf zur ausnahmslosen Gleichberechtigung zwischen Jordan und Mittelmeer.

Wer sich öffentlich mit Palästina solidarisieren wolle, könne sich also weder auf ein verfassungskonformes Verhalten der Polizei noch auf objektive Berichterstattung in der deutschen Presse verlassen. Der auf der Kundgebung verhaftete jüdische Aktivist Adam Broomberg sagt diesbezüglich: „Sie wollten nur eine Demonstration auflösen, die von Juden organisiert wurde, die ihr Privileg nutzten, um palästinensischen Stimmen Gehör zu verschaffen.” Auch ihm wird Nähe zu BDS im Kontext seiner aktivistischen Arbeit vorgeworfen.  Der südafrikanische Künstler jüdischer Herkunft weist den Vorwurf des Antisemitismus jedoch ebenfalls entschieden zurück. 

Diskriminierung, Entmenschlichung, Kriminalisierung

Diese Einschätzungen entsprechen auch der Definition für Anti-Palästinensischen Rassismus der Arabisch- Kanadischen Jurist*innenvereinigung (ACLA). Demnach kann anti-palästinensischer Rassismus verschiedene Formen annehmen. Dazu gehören unter anderem die Leugnung der Nakba und die damit einhergehende Nichtanerkennung der Palästinenser*innen als indigenes Volk mit Rechten in Bezug auf das besetzte und historische Palästina. Auch  die Diffamierung von Palästinenser*innen und ihren Verbündeten als inhärent antisemitisch, antidemokratisch und terroristische Bedrohung bzw. Sympathisant*innen dessen sind ein Bestandteil.

Das ist nicht nur in Deutschland ein Problem. Die Entmenschlichung von Palästinenser*innen ist in der westlichen Welt derart allgegenwärtig, dass selbst KIs sie reproduzieren. Fragt man beispielsweise ChatGPT, ob ein Israeli es verdient hätte, frei zu sein, wird gefragt, wie man auf die Idee komme, eine solche Frage zu stellen. Fragt man hingegen, ob Palästinenser*innen es verdient hätten, frei zu sein, antwortet die KI: „Die Frage nach der Freiheit der Palästinenser ist ein komplexes und kontroverses Thema, das von verschiedenen Perspektiven betrachtet werden kann“.

Hoban argumentiert, dass insbesondere in Deutschland jüdische Identität und Geschichte immer wieder mit Israel gleichgesetzt werde.  Er warnt in diesem Zusammenhang auch vor dem inflationären Antisemitismusvorwurf in der Israel-Palästina Thematik und einem rassistischen Antisemitismusdiskurs in Deutschland. „Es gibt keinen naturgegebenen Gegensatz oder Konflikt zwischen jüdischen und palästinensischen Menschen, es handelt sich da um politische Faktoren in Israel-Palästina, um Machtverhältnisse und Unterdrückungsverhältnisse.“  Überdies kritisiert er die pauschale Diffamierung von Muslim*innen als antisemitisch. 

Es gebe  natürlich ein sehr berechtigtes Gefühl der Gefahr durch Antisemitismus. Doch diese Angst werde oft auf rassistische Weise ausgenutzt, um gegen Muslim*innen zu hetzen, statt sich auf die Rechtsextremen oder Rechtskonservativen zu konzentrieren. 

Adam Broomberg äußert sich in diesem Zusammenhang noch deutlicher: „Deutschland ist nicht berechtigt, uns zu sagen, wie Antisemitismus aussieht. Sie können nicht drei Viertel meiner Familie vernichten und mir dann sagen, was Antisemitismus ist. Die Forderung nach Gleichberechtigung ist nicht antisemitisch – Juden für Rassismus und Autoritarismus zu instrumentalisieren schon!” Auch der deutsch-palästinensische Aktivist Ramsis Kilani konstatiert, dass man in Deutschland nicht anerkenne, dass es einen Unterschied zwischen dem Staat Israel, dem Zionismus und dem Judentum gebe. Der Staat Israel werde homogenisiert und dazu legitimiert, für alle Juden weltweit zu sprechen, wodurch jüdische Menschen als Volksmasse generalisiert und essentialisiert würden. „Ihnen wird aberkannt, wie jeder andere Mensch auch zu sein; unterschiedliche Positionen zu haben, unterschiedliche politische Ausrichtungen vertreten zu können.“ Auch er warnt: „Anti-palästinensischer Rassismus setzt natürlich bei palästinensischen Menschen an, ist aber ein Türöffner für mehr.“

Die palästinensische Identität bringt ein intergenerationales Ur-Trauma mit sich. Die ständigen Verletzungen des fundamentalen Menschenrechts,  Vergangenem und Gegenwärtigem zu gedenken, verhindern nicht nur die notwendige Aufarbeitung der Nakba. Indem verwehrt wird, zu gedenken, zu erinnern und zu mahnen, wird letztendlich verwehrt zu heilen.


Illustration: Franziska Auffenberg

Hinweis: Die Aussagen des Artikels spiegeln nicht notwendigerweise die Meinung der gesamten Redaktion wider.
Anm. d. Red.: Dieser Artikel erschien in einer anderen Version in der Printausgabe der #265.
Anm. d. Red.: Dieser Artikel wurde nachträglich geändert.

Nachträgliche Kontextualisierung der Redaktion: Dem Ruf “From the river to the sea – Palestine will be free” wird häufig unterstellt, grundlegend antisemitisch, sowie ein Kennzeichen terroristischer Organisationen zu sein. Erst kürzlich weist das Amtsgericht Mannheim ebendiesen Vorwurf durch einen Beschluss vom 18. September 2023 zurück. Zwar könne der Ruf strafbare Ansichten verkörpern, allerdings ebenso die Forderung nach einem gleichberechtigten Israel und Palästina ausdrücken. Die Aussage habe verschiedene plausible Deutungen und sei somit durch das Menschenrecht der freien Meinungsäußerung gedeckt.