Am 9. Oktober 2019 wurden in Halle (Saale) die Passantin Jana L. und der Imbiss-Gast Kevin S. im Zuge eines antisemitischen Anschlages getötet. Am 19. Februar 2020 kamen neun Personen mit Migrationshintergrund in Hanau bei einem rassistischen Attentat ums Leben. Zwei voneinander separat zu betrachtende Vorfälle, beide gleichermaßen schwer. Ist diese Schwere der Anschläge unter Berliner Student*innen noch spürbar? Wir haben nachgefragt.

Es ist ein heißer Maitag in Berlin. Die Student*innen tummeln sich vor dem Institutsgebäude am Hegelplatz. Die Pause zwischen den Kursen hat gerade begonnen, perfekt also, um sich über Themen jeglicher Art auszutauschen. Wir gehen auf zwei junge Männer zu. Der eine muss leider los und hat demnach keine Zeit, mit uns zu sprechen. Sein Freund aber schon. Auf die Frage, was er mit Halle verbinde, antwortet er, dass seine ganze Familie von dort komme. Er erzählt uns von einem bekannten Laternenfest, das jedes Jahr stattfindet, und von seinen Großeltern, die noch sehr in alten Denkmustern feststecken. Wir geben ihm das Stichwort Extremismus in Deutschland: „Sowohl Rassismus als auch Extremismus sind gerade sehr am Erstarken und sind vielleicht sogar stärker, als man die ganzen Jahre gedacht hat“, ist die Antwort des Studenten. Den am 9. Oktober 2019 in Halle passierten Anschlag erwähnt er nicht.

Eine andere Student*innengruppe stellt – allerdings auch erst nach Nennung des Stichwortes – vage Assoziationen zwischen der Stadt Halle und Extremismus her: „Da ist eine größere rechte Szene. Aber ist ja auch im Osten, das ist jetzt keine Überraschung.“ Nach nochmaligem Nachfragen und etwas Überlegen erinnern sich diese Studentinnen schließlich auch an das Attentat. Wirklich sicher scheinen sie sich jedoch nicht in ihren Antworten zu sein, da diese eher fragend daherkommen und wie zu einem Puzzle zusammengefügt werden.

Ganz anders sieht das aus, als wir uns bei den Student*innen nach ihren Assoziationen mit der Stadt Hanau erkundigen. Ein Student antwortet: „Mir kommt direkt das Attentat in den Kopf. Sonst weiter nichts, ich war auch noch nie da.“

Auch als wir Personen im gleichen Interview direkt aufeinanderfolgend befragen, was sie mit Hanau verbinden, und was mit Halle, können sich die Studierenden nicht an das Attentat in Halle erinnern; der Anschlag in Hanau ist ihnen aber sehr wohl noch präsent: „Ich verbinde mit Halle heftige Fußballfans und braunes Gedankengut“, so ein Student. Nur wenige Sekunden später äußert sich jener Student zu Hanau wie folgt: „Da gab es doch so einen krassen Anschlag.“

Auch für zwei weitere Studentinnen ist das Attentat in Halle nicht mehr greifbar. Ihre Aussagen bringen aber noch eine Überraschung zu Tage: „Da ist doch irgendwas passiert oder nicht? War in Halle nicht das mit der Shisha-Bar?* Ach nein, das war Hanau… Ich glaube, Halle hat einfach ein Rechts-Problem, Halle kommt mir sehr rechts vor, aber ich weiß nicht, was da passiert ist.“

Die Stimmen unserer Umfrage lassen nun eine Tendenz erkennen: Während der Anschlag in Hanau den meisten Student*innen noch sehr gut im Gedächtnis ist, können sie sich an den in Halle kaum noch bis gar nicht mehr erinnern. Hierbei gilt zu bedenken, dass die beiden Anschläge nur wenige Monate auseinanderliegen. Die zeitliche Komponente dürfte also keine Rolle spielen. Was aber dann? Eine mögliche ungleich verteilte Präsenz in den Medien? Der Fakt, dass in Hanau neun Menschen gestorben sind und in Halle „nur“ zwei?

Was auch immer der Grund für das Nicht-Erinnern ist: Das Ergebnis der Interviews jedenfalls ist eine erschreckende Bilanz, die zeigt, wie viel in Sachen Erinnerungskultur und Aufarbeitung noch geschehen muss.

*Anm. d. Chefredaktion: In einschlägigen Berichten über das Attentat von Hanau war oft von „Shisha-Morden“ die Rede. Dieser Begriff ist nicht zutreffend, lediglich einer der Morde fand in einer solchen Bar statt. „Shisha-Morde“ ist damit eine herabwürdigende Verallgemeinerung.


Illustration: Franziska Auffenberg