Unser kollektives Gedächtnis kann nicht nur durch das Teilen von Hashtags verändert werden. Vor allem nicht-marginalisierte Menschen müssen dafür realen Ungerechtigkeiten Worte des Widerstandes entgegenbringen. Dennoch bieten virtuelle Netzwerke Platz für Vernetzung, Austausch und eine Bühne für perspektivische Erinnerung.

Wir leben in einer postmigrantischen Gesellschaft. Das bedeutet, dass sowohl unser kulturelles Leben als auch die deutsche Wirtschaft und Politik stark, vor allem aber unumkehrbar durch Migration beeinflusst sind. Das Leben jedes vierten Menschen ist unmittelbar durch die Migrationsgeschichte in der eigenen Familie geprägt. Es teilen allein in Deutschland über 20 Millionen Menschen Erfahrungen, die von Rassismus und Ignoranz bestimmt sind. Migrantisch gelesene Menschen müssen sich Veränderungen durch Aktivismus und Eigeninitiative erkämpfen, denn obwohl sie lautstark Missstände artikulieren, wird ihnen von der Gesamtgesellschaft oft kein Gehör entgegengebracht. 

An dieser Stelle ist es notwendig zu betonen, dass ich als weiße Studentin ohne Migrationsgeschichte weder von Rassismus betroffen bin, noch eine migrantische Perspektive einnehmen kann. Dennoch möchte ich die gesamtgesellschaftliche Bedeutung der Erinnerung marginalisierter Gruppen reflektieren.

Dieser bisher fehlende Raum kann durch die sozialen Medien neu eröffnet werden. Sie sind ein wirksamer Weg, den Dialog zwischen verschiedenen Menschen zu ermöglichen, vor allem da sich Medienproduzenten und -rezipienten nicht voneinander trennen lassen. Egal ob Kommentar oder Post im Feed, jegliche Beteiligung in den sozialen Netzwerken konstruiert virtuelle Räume. Im Austausch liegt hierbei eine wertvolle Chance, die Perspektive marginalisierter Gruppen stärker zu integrieren und unser kollektives Gedächtnis zu verändern. Daher ist es auch für mich als Nicht-Betroffene essenziell, diesen Aspekt unserer Erinnerungskultur zu betonen. Im Streben nach einer sicheren Gesellschaft für alle ist es notwendig, die eigenen Privilegien zu reflektieren und zu nutzen. Der Begriff des kollektiven Gedächtnisses meint die individuellen Erinnerungen und Wahrnehmungen einzelner Gruppenmitglieder, die zusammengenommen das öffentliche Bewusstsein bilden. Abhängig vom sozialen Rahmen bestimmen diese, welche vergangenen Geschehnisse weitererzählt und immer wieder aktiv reproduziert werden. Auf diesem Weg bildet sich die Erinnerungskultur einer Gesellschaft. Wir können zumindest in Teilen lenken, was uns gegenwärtig im Gedächtnis bleibt und dadurch die Art zukünftiger Erinnerung bewusst konstruieren.

Selbstermächtigung durch neue Narrative

In den sozialen Medien haben sich niedrigschwellige Praktiken etabliert, die es nahezu jedem Menschen ermöglichen, sich zu beteiligen. Dadurch wird die Vernetzung und Solidarisierung sowohl innerhalb einer marginalisierten Gruppe als auch öffentlich zugänglich.

Dadurch  wiederum wird ein virtueller Raum geschaffen, der in institutionellen Sphären oftmals fehlt. In ihm ist es möglich, bestehende Narrative, die sehr oft einen degradierenden Ursprung haben, zu reflektieren und umzudeuten. Diese Ersetzung von Fremd- durch Eigenbeschreibung kann viel Kraft geben, wodurch sich der unsichere digitale Raum einer Gruppe verfestigen kann. Er kann von dort an je nach den eigenen Bedürfnissen genutzt werden. Diese beinhalten oft die gemeinsame Verarbeitung von Emotionen oder das Teilen von gemeinsamen, unter anderem schmerzhaften Erfahrungen. Erinnerung funktioniert besonders gut durch das Erzählen einprägsamer Geschichten, der Fachbegriff dafür lautet Historytelling. Personen können ihre Erfahrungen auf diese Art aus ihrer persönlichen Perspektive selbst formulieren. Sie sind subjektiv konstruiert und offen zugänglich für alle.

Gedenken durch #

Eine virtuelle Praktik in diesem Zusammenhang ist die Verwendung von Hashtags. Im direkten Zusammenhang mit dem rassistisch motivierten Anschlag auf Hanau am 19. Februar 2020, bei dem 9 Menschen getötet wurden, stehen beispielsweise #saytheirnames und #hanauistüberall. Ersterer steht für Solidarität mit Opfern rassistischer Gewalt weltweit und fordert, sie nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Komprimiert hinter drei kleinen Worten verbergen sich unzählige Menschen weltweit, denen ihr Leben aufgrund des tief verwurzelten Rassismus genommen wurde. #hanauistüberall benennt Hanau als Symbol rechter Gewalt speziell für Deutschland. Hashtags schaffen kosmopolitische Solidarität unabhängig von nationalen Grenzen. Sie deuten sowohl Identitätszugehörigkeit als auch die inhaltliche Tendenz eines Posts an und prägen den Diskurs zu gewissen Themen aus der Perspektive der Betroffenengruppe. Öffentliche Zugänglichkeiten zu schmerzvollen Erfahrungen und privater Erinnerung machen die Erzählenden jedoch verletzlich. Das birgt die Gefahr, dass andere User*innen diese Symbole instrumentalisieren und versuchen, sie gewaltvoll umzudeuten. Es braucht also ihre ständige Nutzung, um Erinnerungen bewusst aufrechtzuerhalten.

Begrenzung wirksamer Erinnerung

Digitale, soziale Medien sind Räume, die von visuellen Eindrücken und performativen Darstellungen leben. Daher es ist es umso sinnvoller, sie für die Sichtbarkeit migrantischer Perspektiven in dieser Weise zu nutzen. Als nicht-migrantische Person bedeutet das, die Stimmen marginalisierter Personen zu teilen. Zwei weitere Praktiken sind Informantions- und Gedenkposts. Letztere waren beim Attentat in Hanau sehr präsent, sie werden bis heute (hauptsächlich zu Jahrestagen) geteilt. Ihre Wirkung hat sich vor allem durch ständiges Reposten und die Zirkulation ähnlicher Beiträge entfaltet.

Wir brauchen diese niedrigschwellige mediale Aufbereitung. Gleichzeitig müssen wir im Hinterkopf behalten, dass soziale Medien oftmals keinen Platz für ausführliche Quellenangaben und Kontextualisierungen bieten. Sie leben von Vereinfachung, die auf der Verständlichkeit für möglichst alle beruht. Dafür bergen simplifizierte Posts die Gefahr, intransparente Informationen in Umlauf zu bringen oder Sachverhalte ungewollt zu verzerren.

Algorithmen reduzieren die Sichtbarkeit

Theoretisch erlauben die sozialen Medien unbegrenzte Verbreitung der Inhalte. Dieser Idee widersprechen in der Realität Algorithmen, die wie unsichtbare, digitale Grenzen wirken. TikTok, Instagram und Twitter sind auf möglichst kontroverse Statements oder besonders humoristische Memes ausgelegt, im Fokus steht die maximale Interaktion und Nutzungsdauer. Neutral abwägende, politische und kritische Beiträge, die nicht in dieses Schema passen, werden fremden Nutzer*innen viel seltener vorgeschlagen. So entsteht eine kontinuierliche Zirkulation ähnlich aufgebauter, populärer Medientypen, die aber den Raum für tiefgreifendere Inhalte versperren.

Meine Rolle als Angehörige einer weißen Mehrheitsgesellschaft besteht darin, die Worte marginalisierter und rassifizierter Menschen zu teilen. Ihre Stimmen brauchen mehr freie Entfaltungsmöglichkeit, aber vor allem Gehör Nicht-Betroffener, um unser Kollektivbewusstsein zu formen. Nur so können rassistische Denkmuster wirksam durchbrochen werden.


Illustration: Luzie Fuhrmann