Die Reise unseres Inlandsprojektes bringt uns nach Hanau, eine kleine Stadt in Hessen in der Nähe von Frankfurt am Main. Der Moment, aus dem Zug auszusteigen und den Bahnsteig zu betreten, fühlt sich surreal an. Wie Hanau Emotionen berührt.
Hanau wirkt auf den ersten Blick wie jede andere Stadt, aber es fühlt sich so an, als würde etwas Ungewöhnliches in der Atmosphäre liegen. Der Bahnhof wirkt klein und die schwüle Luft drückt auf die Stadt. Doch nicht nur das sommerliche Wetter macht sich bemerkbar, ich habe sofort das Gefühl der Bedrücktheit. Während der Fahrt begegnen einem viele Kreisverkehre, bis der Bus in eine enge, belebte Straße einbiegt. Es ziehen viele Läden vorbei und in der Abenddämmerung strahlen mir bunte Farben von diversen Kiosken, Imbissen und Restaurants entgegen.
Der Marktplatz bildet das Herzstück der Stadt, relativ in der Mitte erhebt sich die Statue der Gebrüder Grimm, die aus Hanau stammten. Jedoch ist keine Spur mehr des Gedenkens an die Opfer des Anschlags vom Februar 2020 zu erkennen. Es herrscht reges Treiben. Familien sitzen auf Bänken und Kinder rennen über den Platz. Die Menschen wirken glücklich, aber trotzdem verspüre ich eine gewisse Melancholie. Ein paar Querstraßen weiter befindet sich der Heumarkt, eine kleine Straße, in der zwei Lokale am 19. Februar 2020 zum Anschlagsort wurden. Zwischen den beiden Häusern ist eine goldene Gedenktafel angebracht. In großen Buchstaben steht das Zitat: „In Erinnerung und zum Gedenken – In Memoriam“ – darunter eine kurze Beschreibung, was in der Tatnacht geschah. Danach „Wir werden sie nie vergessen“. Links davon befinden sich Bilder der neun Opfer. Es laufen Menschen vorbei, doch nur die wenigsten werfen einen Blick darauf.
Einerseits scheint Normalität in die Stadt eingekehrt zu sein, andererseits kämpft diese offensichtlich gegen das Vergessen. An mehreren Häusern befinden sich Sticker mit den Namen der Opfer, einige Meter weiter sind wieder die bekannten Portraits auf Plakaten um einen Baum herum befestigt. Beim Überqueren des Heumarkts, direkt in der nächsten Querstraße, ist das Schaufenster der Initiative 19. Februar zu sehen, in dem sich wieder Plakate mit den Gesichtern der Verstorbenen aneinanderreihen. Bei Straßengesprächen mit Passanten wird klar, dass es nach dem Anschlag viele Betroffene gibt und viele in der Stadt trauern. Hanau ist klein, jede*r kennt sich. Die Menschen teilen eine gemeinsame Geschichte. Zudem strahlen sie eine gewisse Wärme aus – sie sind überaus freundlich und bemühen sich, einem ihre Sichtweisen näherzubringen. Das beeindruckendste ist, dass augenscheinlich jede Person eine eigene persönliche Geschichte mit der Nacht des 19. Februar verbindet.
Außerdem gehen die Solidarität und Gemeinschaft über die Betroffenen hinaus. Die Menschen strahlen ein Bewusstsein aus, es wirkt, als hätten alle verstanden, was in jener Nacht wirklich passiert ist und was für eine Belastung dies für die Angehörigen ist. Die Passanten teilen nur respektvolle, nette Worte und es fühlt sich so an, als wären alle in Hanau eine große Familie.
Das Gefühl, das ich in Hanau empfinde, ist paradox. Einerseits spüre ich eine große emotionale Belastung, ich realisiere kaum, dass ich jetzt wirklich an diesem Ort bin, der Stadt, die ich sonst nur aus den Medien kannte. Der Anschlag liegt offensichtlich noch über Hanau, wie eine prägende Erinnerung, die man nicht vergessen kann und auch nicht vergessen sollte. Andererseits empfinde ich im Gespräch mit den Einwohnern auch Trost. Das Gefühl der Solidarität ist deutlich spürbar, gemeinsam mit dem Willen, zusammen gegen Rassismus aller Art anzukämpfen. Denn bei einem sind sich die meisten einig – dieser Anschlag muss der letzte gewesen sein.
Illustration: Julia Steingraber