Tuğsal Moğul, Arzt und Theaterregisseur, beschäftigt sich in seinen Stücken mit Rechtsextremismus und Antisemitismus. Der öffentliche Charakter des Theaters geht einher mit seinem Anliegen, strukturellen Rassismus sichtbar zu machen und Opfern wie Angehörigen zu erinnern. Sein Stück And now Hanau“ macht dafür öffentliche Orte zur Bühne.

Tuğsal Moğul hat seine Arbeit am Theater 2008 mit Rechercheprojekten begonnen, die sich primär mit ethisch-medizinischen Themen beschäftigen. Als Arzt und Regisseur konnte er früh aus dieser doppelten Qualifikation schöpfen. Sein Werdegang zum Themenkomplex Migration und Rassismus in Deutschland umfasst seine gesamte Karriere. Mit dem Stück Die deutsche Eiche setzt der Regisseur 2012 sein erstes Dokumentartheaterstück um, das sich mit der ersten Generation deutsch-türkischer Einwanderinnen auseinandersetzt. Sie haben mir ihre Geschichten geschenkt, sagt Tuğsal über den Entstehungsprozess dieses Stückes. Mit über 70 Frauen, teils Freundinnen seiner Mutter, habe er für dieses Projekt gesprochen, sie kennengelernt und ihre Geschichten angehört. Diese Geschichten ziehen mich an, auch meine Eltern kommen aus einem anderen Land, ich bin in Nordrhein-Westfalen geboren und türkischer Muttersprachler, erzählt Tuğsal auf die Frage nach der Motivation für diese Recherche. Und dann fingen 2011 die Morde an. Mir war klar, dass das mit Rechtsextremismus zu tun hatte, auch wenn die Medien das lange vertuschten.  Ich war wütend und frustriert, als ich 2011 erfahren habe, wie das war und wie der Staat so versagt hat.

Auch Deutsche unter den Opfern“

Tuğsal fährt zu den NSU-Prozessen nach München, ermöglicht durch ein Arbeitsstipendium des Theater Münster. Dazu berichtet er: Ich habe mich tiefer in die Netzwerke eingearbeitet. Wie kann ein Staat so versagen, wenn es um Rechtsextremismus geht? Das aus seinen Protokollen, Erlebnissen und Recherchen in München entstandene Theaterstück heißt Auch Deutsche unter den Opfern und feierte Uraufführung am 17.01.2015 im Theater Münster und ist den in der Bundesrepublik durch rechte Gewalt getöteten Menschen gewidmet. Das Stück ist so erfolgreich, dass es mehrmals nachgespielt und sogar als Hörbuch veröffentlicht wird. Für Tuğsal beginnt jedoch erst jetzt, was mit der Motivation in München den Prozessen beizuwohnen begonnen hatte: Wir bekommen als weiße Mehrheitsgesellschaft so wenig mit, was in Deutschland passiert. Das hat mich nicht mehr losgelassen. Mit der Ambition, weitere rassistisch motivierte Anschläge dokumentarisch für das Theater aufzuarbeiten, beginnt seine Arbeit an einem neuen Stück. 

Es hört einfach nicht auf

Denn es hört einfach nicht auf. So fängt das Stück And now Hanau an, an dem Tuğsal seit 2020 gearbeitet hat. Es thematisiert den Anschlag in Hanau am 19. Februar 2020, bei dem Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov aus rassistischen Motiven getötet wurden. Kontakt, so Tuğsal, entstand dann mit den Angehörigen, vornehmlich Mitgliedern der Initiative 19. Februar, beim ersten Gedenktag des Anschlages 2021. Danach habe er zwei Jahre recherchiert und einen Theatertext entworfen. 

Als dessen Besonderheit beschreibt Tuğsal, wie nah er mit Angehörigen für dieses Projekt zusammengearbeitet habe. Daraus hätten sich aber umso festere Bindungen und Erinnerungsmomente geformt. And now Hanau nimmt die Perspektive der Opfer ein und markiert darin eine wichtige Leistung des Theaters selbst. Das ist nicht nur für die Angehörigen wichtig, sondern auch ein elementarer Bestandteil der Erinnerungsarbeit. Solche Stücke, so Tuğsal, gehören in das Repertoire von allen Theatern. Sie lehnen vor allem das ab, was in den Medien häufig falsch und traumatisierend für die Angehörigen der Opfer kolportiert wurde. 

Wo Entscheidungen getroffen werden

Es ist stattdessen eine Erinnerungsarbeit, die die Angehörigen mit einbezieht, die Perspektive der Opfer einnimmt und Distanz bewusst durchbricht: Die Unmittelbarkeit des Theaters ist das, was es am Besten leisten kann: das Stück einem Publikum näher bringen, das sonst ins Theater gehen würde. Szenarien dort stattfinden lassen, wo Entscheidungen getroffen werden, erzählt Tuğsal zu And now Hanau. Das Stück spielt deshalb nicht auf einer klassischen Theaterbühne, sondern im Rathaus in Recklinghausen, dem Rathausfestsaal und dem Landgericht in Münster. Die Uraufführung findet am 26. Mai 2023 in Münster als Koproduktion mit den Ruhrfestspielen Recklinghausen und dem Theater Oberhausen, in Kooperation mit dem Maxim Gorki Theater Berlin statt. 

Die Stimmung während der Aufführung ist dann ein bisschen so wie im Gottesdienst, erzählt Tuğsal über sein Stück. In Recklingshausen war noch nie so eine Stille am Schluss, als das Licht ausgegangen ist. Es gab minutenlanges Schweigen. Die Angehörigen waren auch da. Das war schon anders als in anderen Theaterstücken.
Das Theater ist natürlich nicht die einzige Instanz, um Erinnerungsarbeit zu leisten. Auch filmische Bearbeitungen hat es einige nach den Anschlägen gegeben. Es gibt Dokumentarfilme, wie den von Marcin Wierzchowski, die auch das leisten können, aber die schaut man sich alleine zuhause an. Mit hundert Leuten dagegen in einem Raum zu sitzen, ist eine andere Erfahrung, so Tuğsal über das Potenzial seiner Inszenierung. 

And now Hanau macht sichtbar, wie Erinnerungsarbeit aktiv geleistet werden kann. Das Stück zeigt vor allem transformatives Potenzial, denn es macht die Öffentlichkeit bewusst zur Bühne. Im Festsaal des historischen Rathauses Münster, Kern der öffentlich-politischen Stadtarbeit, treten die Schauspieler*innen auf. Sie erschaffen eine Atmosphäre, die durchdringend wie schockierend ist. Tuğsal Moğul schafft einen Raum, der kein Vergessen möglich macht.


Illustration: Franziska Auffenberg