Zwei Menschen riss der Anschlag in Halle aus dem Leben, neun Menschen der Anschlag in Hanau. Die Täter sind hinter Gittern oder unter der Erde, die Akten im Archiv. Der Prozess jedoch ist nicht beendet.

Ich öffne meinen Laptop. Der Platz im Flixbus reicht knapp, um den Bildschirm zwischen Schoß und Vorderlehne zu klemmen, das WLAN, um ein paar Internetseiten zu laden. Ungeahnt beginnt mit der Reise nach Halle und Hanau für mich ein Prozess.

Eine schwelende Gefahr

Laut dem Verfassungsschutzbericht des Jahres 2022 steigt die Zahl der Menschen mit rechtsextremen Einstellungen. Es sind nicht nur Einzelne, die am politischen oder sozialen Rand stehen, das haben die Wahl eines AfD-Politikers in ein kommunales Spitzenamt und die Rekordwerte der AfD in bundesweiten Umfragen gezeigt. Auch antisemitische und rassistische Vorurteile, Dimensionen des Rechtsextremismus, sind weit in der Gesellschaft verbreiten. Aus ihnen kann Othering, Diskriminierung und Hass entstehen. In Halle und Hanau brach sich diese Entwicklung auf mörderische Weise Bahn: Die Anschläge sind keine Ausnahmeerscheinungen, sondern Ausbrüche einer stetig in der Gesellschaft schwelenden Gefahr.

Mit einem Gefühl von Ohnmacht und Frustration klappe ich meinen Laptop zu: Der Kampf gegen diese Gefahr ist doch end- und aussichtslos. Sie betrifft mich vielleicht gar nicht. Warum soll ich den Kampf dennoch führen?

Für „die anderen“

Manche Menschen können nicht einfach den Laptop und die Augen schließen. Aufgrund ihrer Abstammung, Religion oder Kultur werden sie zu „Anderen“ erklärt und begegnen Vorurteilen und Diskriminierung jeden Tag. Weil sie direkt damit konfrontiert sind, sind es häufig sie, die den Kampf gegen Rassismus, Antisemitismus und andere Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit aufnehmen. Die Normalität dessen, dass Betroffene nicht nur als Zeugen, sondern auch als Anklage den Prozess führen, ist eigentlich eklatant: Dadurch werden viele der Betroffenen, anstatt das erlittenes Trauma es zu verarbeiten, immer wieder daran erinnert. „Es darf nicht dabei bleiben, dass Angehörige versuchen, rassismuskritische Bildungsarbeit zu leisten“, sagt Eren Okcu, Mitarbeiter der Bildungsinitiative Ferhat Unvar in Hanau im Gespräch mit der UnAuf. Immerhin sind es nicht die Betroffenen, die sich ändern müssen, sondern die Strukturen in der Gesellschaft und in den Köpfen jedes Einzelnen. 

Für uns

Die „Nicht-Betroffenen“ also müssen für die „Betroffenen“ den Prozess machen und sich verändern? Nicht selten rufen solche Gedanken nicht nur Abwehrreaktionen hervor, sie stärken auch die Wurzel des Problems: Othering. „Die Zivilgesellschaft ist tief im Schlaf“, sagt İsmet Tekin, Besitzer des ehemaligen Kiez-Döners und Überlebender des Anschlags von Halle. „In unserem Fall sind zwei Deutsche gestorben.“ Vorurteile, Othering, Diskriminierung und Hass sind keine Gefahr für die „Einen“, die die „Anderen“ nicht betrifft. Sie sind eine Gefahr für die Demokratie und eine Gefahr für jeden von uns. Denn wir alle sind „anders“. Jeder Mensch muss der Realität ins Auge blicken, dass niemand die Augen verschließen kann.

Anstatt also einen Kampf zu führen gegen Rassismus oder gegen Antisemitismus, gilt es, wie die jüdische Autorin Esther Dischereit es formuliert, nur eins zu fordern: „Das Recht zu Sein.“ „Dafür muss man hart sein“, sagt İsmet Tekin, „für alle.“

Im ICE von Hanau nach Berlin habe ich meinen Laptop aufgeklappt. Unsere Reise endet. Im Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus, „für das Sein“ ist sie nur ein kleiner Schritt. Aber sie hat mir gezeigt, dass gerade weil der Prozess nicht beendet ist, ich ihn jeden Tag erneut führen muss und werde.
Für heute schließe ich meinen Laptop. Und ich weiß, morgen werde ich ihn wieder öffnen.


Illustration: Luzie Fuhrmann