„Alle zusammen gegen den Faschismus“ tönte es im Januar 2025 durch die sächsische Kleinstadt Riesa, als Jung und Alt gegen den Bundesparteitag der AfD protestierten. Der vielfältige Protest wurde von einem breiten Bündnis aus Gewerkschaften und zivilgesellschaftlichen Organisationen getragen – auch Studis gegen Rechts hatte zur Teilnahme aufgerufen. Der Parteitag sollte durch laute, bunte Demonstrationen und massenhafte Sitzblockaden gestört und verhindert werden. Solche Aktionen des zivilen Ungehorsams werden in Politik und Medien kontrovers diskutiert. Kann ziviler Ungehorsam in einer Demokratie überhaupt moralisch gerechtfertigt sein?
Ziviler Ungehorsam wird allgemeinhin als die öffentliche, gewaltfreie Überschreitung von Gesetzen aus politischen oder moralischen Gründen verstanden. Die Bürgerrechtsbewegung in den USA und die indische Unabhängigkeitsbewegung im 20. Jahrhundert sind bekannte Beispiele für erfolgreiche Proteste, die sich diesem Mittel bedienten. Rechtsextremismus zeichnet sich im Kern durch die Vorstellung aus, dass nicht alle Menschen gleichwertig sind, und durch Menschenfeindlichkeit gegenüber bestimmten Gruppen. Diese Vorstellungen und Werte widersprechen den demokratischen und moralischen Grundsätzen, auf denen die deutsche Verfassung aufbaut. Das Erstarken rechtsextremer Ideologien stellt also eine konkrete Gefahr für bestehende Demokratien und Grundrechte dar. Rechtsextreme Einstellungen zeigen sich allerdings nicht nur in der Zivilgesellschaft. In Deutschland hat der Verfassungsschutz nun die gesamte AfD als gesichert rechtsextrem eingestuft, da Bestrebungen zur Abschaffung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung festgestellt wurden. Autoritäre Tendenzen und die Aushöhlung der Demokratie und Grundrechte kennzeichnen ihr Parteiprogramm. Auch global ist seit Jahren ein Aufschwung rechter Kräfte zu beobachten, wie beispielsweise in den USA, Ungarn, Italien und Argentinien – um nur ein paar Beispiele zu nennen. Die faschistischen Züge der Trump-Regierung sind nicht mehr zu leugnen. Aktionen des zivilen Ungehorsams gegen Rechtsextremismus stehen also im Lichte der Verteidigung unserer Demokratie und Menschenrechte. Doch sind diese Aktionen moralisch legitim? Nach Kants kategorischem Imperativ sind Handlungen – einfach gesagt – dann moralisch erlaubt, wenn man wollen kann, dass alle sich so verhalten. Wie würde also eine Welt aussehen, in der alle ständig ungehorsamen Widerstand gegen Rechts leisten würden, wenn eine konkrete Bedrohung der Demokratie und Menschrechte besteht?
In einer solchen Welt wäre ziviler Ungehorsam wohl eine anerkannte, natürliche Reaktion auf demokratiefeindliche Entwicklungen. Vor diesem Hintergrund ist denkbar, dass Eingriffe in Grundrechte politisch vorausschauend vermieden und autoritäre Tendenzen frühzeitig gestoppt würden, um möglichen Widerstand in der Gesellschaft zu vermeiden. Die Achtung und Erhaltung der Demokratie würden die politische Entscheidungsfindung prägen und womöglich zu einer moralisch besseren politischen Kultur führen. Außerdem würde politische Teilhabe der Bevölkerung und zivilgesellschaftliches Engagement gefördert und Demokratie nicht nur als passives System, sondern als aktiver Prozess anerkannt. So würden Proteste als moralische Korrektur der politischen Entscheidungsträger*innen fungieren und zu einer fortlaufenden Demokratisierung beitragen.
Aber würde das nicht zu willkürlichen Protestbewegungen führen? Wer entscheidet, ob eine Gefährdung der Grundrechte und Demokratie vorliegt, die den Protest legitimiert? Und besteht nicht sogar die Gefahr, dass Rechte die Protestform für ihre Zwecke missbrauchen könnten? Zum Glück herrscht in Deutschland (noch) das Prinzip der Gewaltenteilung. Als idealerweise unparteiliche Instanz können Gerichte prüfen, ob eine Institution oder Partei verfassungsfeindliche Haltungen vorweist, so wie es bei der AfD bereits geschehen ist. Außerdem ist rechtsextremer Protest aufgrund der zugrundeliegenden Demokratiefeindlichkeit grundsätzlich nicht mit dem Begriff des zivilen Ungehorsam vereinbar. Denn historisch gesehen verfolgten Bewegungen, die diese Protestform nutzen, stets demokratiefördernde Ziele. Solange sich Aktionen auf die Einschätzung unabhängiger Gerichte berufen und für den Erhalt von Demokratie und Grundrechten kämpfen, sind sie also nicht beliebig, sondern zielgerichtet und legitim.
Würde ziviler Ungehorsam nicht an Wirksamkeit verlieren, wenn er zum politischen Alltag gehört? Und droht dann nicht sogar gesellschaftliche Instabilität? Die Wirksamkeit von Protesten ist schwer messbar. Grundsätzlich zielen sie meist auf öffentliche Aufmerksamkeit und eine Diskursverschiebung zu ihren Gunsten ab; oft stellen Protestierende Forderungen an die Regierung. Sollte der Protest erfolgreich sein, so würde er naturgemäß seine Grundlage verlieren. Proteste gegen Rechtsextremismus könnten beispielsweise als erfolgreich bewertet werden, wenn (z.B. durch Präventionsmaßnahmen, Aussteigerprogramme, Parteiverbote, etc.) rechtsextremes Gedankengut so weit aus Gesellschaft und Politik verdrängt würde, dass Demokratie und Grundrechte nicht mehr in Gefahr sind – für niemanden. Ob eine anhaltende Bedrohung von Grundrechten und Demokratie überhaupt dauerhafte Proteste nach sich ziehen würde, hängt nicht zuletzt von strategischen Entscheidungen der Bewegung ab. Langfristig besteht die Gefahr gesellschaftlicher Instabilität durch dauerhafte, ungehorsame Proteste vermutlich nicht.
Eine Welt, in der ziviler Ungehorsam immer dann geleistet wird, wenn unsere Menschenrechte und Demokratie durch das Erstarken rechtsextremer Kräfte in Gefahr sind, ist grundsätzlich denkbar und kann gewollt werden – und ist damit nach Kants kategorischem Imperativ moralisch erlaubt.
Bereits die Demos gegen Rechts und für Demokratie im Januar 2024 schafften es nicht, die Regierung ins Handeln zu bringen – obwohl sie mit insgesamt mehr als 3 Millionen Teilnehmer*innen die größten in der Geschichte Deutschlands waren. In Riesa hatten AfD-Mitglieder durch die Straßenblockaden Schwierigkeiten, zur Halle des Parteitages zu gelangen. Die Proteste schafften es, den Start des Parteitages um zwei Stunden hinauszuzögern. Damit waren sie zwar in der Tagesschau, eine öffentlich wirksame Reaktion von der Regierung blieb allerdings erneut aus. Dabei steht gerade Deutschland in der Pflicht, Rechtsextremismus zu bekämpfen und Menschenrechte zu schützen. Es bleibt zu hoffen, dass die Proteste zumindest in der Gesellschaft etwas bewegen.
Foto: PM Cheung