Die Deutschen sind stolz auf ihre Erinnerungskultur. Dabei wird ihr seit längerer Zeit vorgeworfen, dass sie das Gedenken lediglich inszeniert. Zudem ist es weniger als ein Jahr her, dass in einer deutschen Fernsehsendung vier von Rassismus nicht betroffene,  weiße Menschen darüber diskutierten, ob ein als Zigeunersauce tituliertes Produkt doch nicht umbenannt werden sollte. Hat die Erinnerungskultur in Deutschland versagt, oder weisen diese Vorfälle nur auf eine wichtige Baustelle der deutschen Erinnerungskultur hin: die Sprache?

Dass rassistische Fremdbeschreibungen bis heute das Stadtbild zieren, ist kein Geheimnis. Der Kolonialismus hat deutliche Spuren in den Straßen hinterlassen. Sinnbildlich steht hierfür eine U-Bahn Station in Berlin, die den Namen „Mohrenstraße“ trägt. Ein Wort, das sich aus dem griechischen Wort „moros“ ableitet, was soviel wie Törichtheit und Dummheit bedeutet und nicht anderes als eine primitive, kolonialistische Fremdbezeichnung für Schwarze Menschen ist. Sie ist ein Beispiel für institutionellen Rassismus und macht deutlich, dass Sprache kein neutrales Medium ist. Es ist kein Zufall, dass das Wort „Rasse“ sich bis heute in Artikel 3 des Grundgesetzes wiederfindet, obwohl Rasse kein wissenschaftliches Konstrukt und ein von den Nationalsozialisten ideologisch kontaminierter Begriff ist. Daraus entsteht die paradoxe Situation, dass das Grundgesetz nicht vor Rassismus schützen kann, ohne auf Rasse zu verweisen.

Diese Fälle machen deutlich, dass Sprache nicht nur in der Wirklichkeit festgelegt ist, sondern auch die Wirklichkeit konstruieren kann. Dieselbe Sprache, die Diskriminierung abschaffen soll, kann somit in ihrem Gebilde Gedanken aus einer Zeit transportieren, die wir hinter uns glauben möchten, wie etwa die Zeit des Nationalsozialismus.

Sprache ist nicht neutral 

Es gibt Worte, die das Erbe des Nationalsozialismus auf eine sehr offensichtliche Art abbilden. So wissen wir , dass „Euthanasie“ in Wahrheit ein Euphemismus für die Massentötung von Menschen mit geistiger und körperlicher Behinderung ist. Auch der Begriff der Selektion, der ursprünglich aus der Biologie stammt und in Zusammenhang mit der Evolutionstheorie steht, hat aufgrund der Bezeichnung der Deportation von Jüd*innen in Konzentrationslager eine negative Konnotation erfahren.

Dann wiederum gibt es Ausdrücke wie „Jedem das seine“ oder „Arbeit macht frei“, die sich zum Teil  in unserem heutigen Sprachgebrauch wiederfinden und viel mehr als volkstümliche Redewendungen,als Sprüche wahrgenommen werden, die an den Toren von Konzentrationslagern teils bis heute prangen.

Ersteres diente vor allem der Demütigung der Inhaftierten, da sie das vermeintliche Recht der „Herrenrasse“, sie zu unterdrücken, suggerieren sollte. Es wurde signalrot und von innen leserlich über dem weißen Haupttor des ehemaligen Konzentrationslagers Buchenwald eingearbeitet.

Aus David mach Dora

Der Nationalsozialismus machte auch vor dem deutschen Alphabet nicht Halt. Er prägte den deutschen Buchstabierkanon neu. Wenn wir heute „D wie Dora“ sagen, dann tun wir das mit der – wenn auch unbewussten – Absicht, um „D wie David“ zu meiden. Aus David wurde somit Dora, aus Nathan Nordpol, aus Samuel Siegfried und aus Zacharias Zeppelin. Dahinter lag die Absicht, jüdisches Leben zu exotisieren – angefangen bei den Namen, die unsichtbar gemacht wurden. Diese sprachliche Marginalisierung wirkt bis heute nach.

Die Nationalsozialisten deuteten nicht nur Worte aus den unterschiedlichsten Bereichen neu, oder prägten wie das Alphabet gelernt wurde, um sie mit ihrer Ideologie zu belagern, sie erfanden auch zahlreiche Neologismen wie „Endlösung“ und „Rassenschande“. Sprache war in der Zeit des Nationalsozialismus ein wichtiges Propagandainstrument, das die ideologische Gleichschaltung der Bevölkerung befördern sollte. Durch die Etablierung einer einheitlichen Parteisprache, und ihr Unterrichten an Schulen in Form von offiziellen Terminologien, sollte das Volk nach dem Reichspropagandaleiter Joseph Goebbels „anfangen einheitlich zu denken (…)“. Dieses Phänomen wird als Sprachlenkung bezeichnet.

Die Sprache des Dritten Reichs 

Dass Sprache nicht nur Gedanken abbildet, sondern auch Gedanken formen kann, fiel auch dem Literaturwissenschaftler Victor Klemperer auf. Klemperer, seiner Zeit ein Romanist und Politiker jüdischer Herkunft, hielt zunächst in Form von Tagebuchaufzeichnungen fest, wie sich die Sprache des Dritten Reichs entwickelte und ihre Wirkung als Propagandainstrument entfaltete. Er zeichnete nach, wie die zunehmende Verrohung der Sprache mit einem zunehmenden Verlust an Menschlichkeit einherging. Seine Aufzeichnungen, die sich 1947 zu dem Werk „LTI – Notizbuch eines Philologen“ verdichten sollten, markieren eine der ersten sprachkritischen Auseinandersetzungen mit der NS-Sprache und sind zugleich eine zeitgenössische Erzählung über die Wirkweise der nationalsozialistischen Sprache im Alltag:

Aber Sprache dichtet und denkt nicht nur für mich, sie lenkt auch mein Gefühl, sie steuert mein ganzes seelisches Wesen, je selbstverständlicher, je unbewußter ich mich ihr überlasse. Und wenn nun die gebildete Sprache aus giftigen Elementen gebildet oder zur Trägerin von Giftstoffen gemacht worden ist? Worte können sein wie winzige Arsendosen: sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.

Klemperer machte als einer der Ersten deutlich, dass eine unreflektierte Übernahme der Sprache eine unberechenbare Gewalt entfalten kann, sobald sie eine Ideologie transportiert. So bemächtigte sich die NS-Terminologie fast aller privaten und öffentlichen Lebensbereiche: „der Politik, der Rechtsprechung, der Wirtschaft, der Kunst, der Wissenschaft, der Schule, des Sportes, der Familie, der Kindergärten und der Kinderstuben“, schrieb Klemperer einst dazu. Selbst die jüdische Literatur sei durch die lingua tertii imperii – der Sprache des Dritten Reichs – geprägt worden.

Der NS-Sprech entfalte gerade durch seine unreflektierte und unumgängliche Übernahme, sowohl in geschriebener als auch gesprochener Sprache, ihre größte manipulative Wirkung.. Gleichzeitig zeichnet sich die Sprache durch eine Armut aus, die sich in einer geringen Anzahl von Neologismen und einer bloßen Übernahme von altdeutschen Begriffen ausdrückt.

Das unfreiwillige Erbe 

Das heißt aber nicht, dass Klemperer Sprache als eine Einheit sah, die soziale Wirklichkeit determiniert, denn Individuen sind in die Diskurse verstrickt, die die Sprache gestalten. Sie können somit durch eine reflektierte Auseinandersetzung mit der Sprache Einfluss auf ihre Gestaltung und Wirkweise einnehmen.

Diese Erkenntnis kann eine Lösung im Umgang mit Nazi-Worten bieten. Ein bloß sprachpuristischer Ansatz, der den Verbot von Worten nationalsozialistischer Herkunft vorsieht, wäre nicht haltbar. Manche Begriffe aus der NS-Zeit sind nicht totzukriegen. Andere wiederum wurden bewusst durch die Nationalsozialisten kontaminiert. Vielmehr bedarf es einem Sprachgefühl und einem kontextsensitiven Umgang mit Worten.  Zum Beispiel das Wort „Sonderbehandlung“, das man in Zusammenhang mit dem Staat Israel nicht benutzen sollte. Es ist ein Tarnbegriff für die Ermordung von Jüd*innen während des Nationalsozialismus.

Auch der Begriff „Kulturschaffende“ löst Ambivalenzen aus und erfuhr vor allem während der Pandemie Hochkonjunktur, um auf die Prekarisierung der Arbeitsbedingungen von Künstler*innen und Beschäftigten in der Kulturbranche aufmerksam zu machen. Außerdem umgeht das Wort das Gendersternchen und wirkt dadurch inklusiver. Er geht aber auf ein Beschluss der Reichskulturkammer aus dem Jahr 1933 zurück, die diesen Begriff mit der Intention neu prägte, alle Künstler*innen und Kulturbereiche der Doktrin des Nationalsozialismus zu unterwerfen. Hier bräuchte es eine alternative Bezeichnung.

Worte wie Stolpersteine 

Es sollte nicht soweit kommen, dass von Rassismus Unbetroffene in einer Talkshow darauf rumreiten, ob bestimmte Worte wie „Zigeuner“ doch nicht verboten werden sollten, um damit über die Befindlichkeiten einer ganzen Personengruppe zu entscheiden. Das reproduziert nicht nur die Machtungleichgewichte in der Gesellschaft, sondern lenkt auch von wichtigen Belangen ab. Es ist letztendlich ein rhetorisches Manöver, um selbst bei einer legitimen Sprachkritik diese Verbote zu banalisieren und in einen Vorwurf der überzogenen political correctness einmünden zu lassen. Das Ziel? Die eigene Deutungshoheit in Diskursen unberührt zu lassen und das zu jedem Preis.

Genau aus diesem Grund sollte die Sprachkritik eine wichtige Komponente der Erinnerungskultur sein. Denn prinzipiell ist es keine verwerfliche Eigenschaft der Sprache, dass sie sowohl in der Realität festgelegt ist, als auch sie mitgestaltet. Das Problem fängt da an, wo Sprache nicht diskriminierungsfrei ist und somit eine Realität konstruiert, die diese Diskriminierung zementiert. Hier kann die Sprachkritik ein Bewusstsein dafür schaffen und durch linguistische Analysen diese Mechanismen offenlegen.

Als der Künstler Gunter Demnig im Jahr 1992 anfing, die ersten Stolpersteine in Deutschland zu verlegen, verfolgte er eine Absicht, die oft übersehen wird. Um sich die Namen auf den Gedenktafeln durchzulesen, muss man sich bücken, was für den Künstler einer demütigen Verbeugung der Deutschen vor den Opfern des Nationalsozialismus gleichkommt. Diese gleiche Demut kann auch auf den eigenen Sprachgebrauch übertragen werden. Über manche Begriffe sollte man stolpern, sobald sie Betroffene verletzen oder rassistisches Gedankengut aus einer Zeit transportieren, die bis in unsere heutige Zeit hinein wirkt. Es sollte ein Gefühl von Unmut auslösen, wenn Flüchtlinge in gut und böse eingeteilt und rassistische Berichterstattungen normalisiert werden, wie beispielsweise als im Zuge des Ukraine-Kriegs von Flüchtlingen mit „blonden Haaren“ und „blauen Augen“ gesprochen und implizit diese Hervorhebungen mit einem Anspruch auf ein größeres Mitgefühl verbunden wurden. Oder wenn rechte Parteien den Vorwurf einer „Schuldkult“ erheben, um die Verantwortung der Deutschen für die Kriegsverbrechen der Nationalsozialisten abzuwerten.

Und es gibt eine Art, diesen Unmut kundzutun: durch eine Sprache, die seismographisch aufdeckt, welche historischen Parallelen hinter solchen Aussagen stecken. Und die es schafft, die Giftwirkung dieser Worte zu unterbinden, bevor sie – in Klemperers Worten – unbemerkt verschluckt werden wie winzige Arsendosen.


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