Ein Gastbeitrag von Julian Sandhagen

Nicht erst der vergangene Wahlkampf hat gezeigt, dass Auseinandersetzungen auf der sozialen Plattform Twitter die öffentliche politische Debatte prägen. Nicht nur Politiker*innen sind auf der Plattform aktiv – sondern auch diejenigen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, die Mächtigen zu beobachten. Das hat Folgen.

Twitters Ruf als soziales Netzwerk der Politik haftet der Plattform auch deshalb an, da unter seinen wenigen Nutzer*innen – Aktive Nutzer 14-49 Jahre laut ARD/ZDF Onlinestudie 2020 7 Prozent – auffällig viele Journalist*innen und auch Politiker*innen aufweisen kann. Doch welche Form nimmt der politische Diskurs auf Twitter an? Die bewusste Verkürzung von Argumenten auf 280 Zeichen, die auch durch die sogenannten Threads, zusammengebundene Kurzbeiträge, nicht ausreichend ausgeglichen werden kann, führt “per design” zu einem provokanten Diskussionsstil. Politische Fragen, so scheint es, werden auf Twitter binär beantwortet – Graubereiche stören die notwendige Zuspitzung.

Soziale Medien leben davon, Nutzer*innen möglichst lange auf der Plattform zu halten. Ein empirisch nachgewiesener Weg dies zu erreichen, ist die Emotionalisierung der Scrollenden. Ein nuanciertes gesellschaftliches Debattenforum ist letztlich also genau das, was Twitter nicht ist und auch nicht sein kann. Die politische Bedeutung von Twitter ist eine andere und es ist beißende Ironie, dass dies jemand durchschaute, der heute nicht mehr mittwittern darf – Donald Trump. Der Immobilienmogul verstand es mit großem Erfolg, den Kurznachrichtendienst zur Mobilisierung seiner politischen Basis zu nutzen. Dieser Erfolg war auch deshalb möglich, da Äusserungen und insbesondere Kontroversen, die auf der Plattform passieren, nicht dort verbleiben, sondern in andere Medien weitergetragen werden. Journalisten*innen gerieten zu Multiplikatoren des Phänomens Trump. Die hierzulande inzwischen auch bekannte linke Abgeordnete Alexandria Ocasio Cortez etwa verdankt ihren Erfolg zum Großteil einer durchdachten Social Media Strategie. Politik hat sich also “erfolgreich” digitalisiert. Doch wie steht es um die, die das Schauspiel der Mächtigen beobachten?

Zwischen Suchmaschinenoptimierung und Timeline

Die Veröffentlichung journalistischer Inhalte wird heutzutage im Wesentlichen nicht mehr durch seine Produzenten bestimmt. Wo und in welcher Form journalistische Produkte ihre Kunden erreichen, entscheiden heute große Technologiefirmen und nicht mehr die Medienverlage. Der enorme Einfluss, den inzwischen die Algorithmen der Suchmaschinen auf den täglichen Schreibprozess von Redaktionen haben – Stichwort Search Engine Optimization (SEO) – verdeutlicht, wie wenig direkte Kontrolle die großen Medienhäuser über die Verbreitung ihrer Produkte ausüben können.

Die Bedeutung von speziell Twitter entstammt einem besonderen Verhältnis zwischen Journalist*innen und der Online- Plattform. Twitter ist für Medienakteure nicht nur eine einseitige Verbreitungsstruktur für bereits geschriebene Artikel, sondern auch eine Quelle für kommende Vorhaben. Das, was auf der Plattform selbst geschieht, wird zum Gegenstand journalistischer Berichterstattung. Der vergangene Bundestagswahlkampf hielt hier verschiedenste Beispiele parat. Eines ist die “Debatte” um einen kurzen Clip des nicht gerade populären Wahlverlierers der Union, Armin Laschet, der es wagte, erst nachdem er einen Laden betreten hatte, seine medizinische Maske aufzuziehen. Auf Twitter führte dieser harmlose persönliche Aussetzer zu einer erwartbaren Totalverurteilung. Der “Shitstorm” wurde daraufhin unter anderem von der Süddeutschen Zeitung und dem Redaktionsnetzwerk Deutschland erneut breitgetreten und somit zum Inhalt des institutionalisierten politischen Journalismus. Der Chefredakteur der Deutschen Presse Agentur Sven Gösmann beschrieb diese Praxis eines insbesondere auf digitalen Kanälen beobachtenden Journalismus  2019 in einem des Norddeutschen Rundfunks wie folgt: “Man muss es verfolgen und im Blick haben, wenn einer ausrutscht.”

Veröffentlichungen großer Tageszeitungen, die zu Rants oder Debatten auf Twitter Bezug nehmen, sind inzwischen so normal, dass deren Existenz oder die Strukturen, die eine solche journalistische Praxis bedingen, nicht mehr in Frage gestellt werden. Dabei sind sie Ausdruck einer Neudefinition journalistischer Arbeit. Twitter ist aus dem Alltag vieler Medienvertreter nicht mehr wegzudenken. Sascha Hölig vom Hans Bredow Institut sagt dazu: “(…) wir wissen, dass insbesondere Journalisten Twitter als Quelle der Recherche nutzen und als Inspiration dafür, welche Themen interessant sind und wie über sie gesprochen wird.”

Schnelle fragwürdige Inhalte

Wichtig für die enorme Bedeutung von Twitter für JournalistInnen ist dabei auch, dass Artikel, die sich Themen annehmen, die auf der Plattform debattiert werden, dank ihrer schnellen Produktion gut zu den prekären Marktmechanismen des Online-Journalismus passen. Twitter liefert die Geschichte sowie die zugehörigen Quellen und macht das Leben der Journalist*innen somit leichter.

Hinzu kommt ein Dominoeffekt. Wenn eine Zeitung eine Auseinandersetzung auf Twitter mit einem zugehörigen Artikel versieht, setzt das andere Redaktionen sofort unter Druck, auch zu dem aufgeworfenen Thema Stellung zu beziehen. Sich in dieser Situation nicht zu viral gegangenen Trends zu äußern, ist eine Entscheidung, die vor dem Hintergrund der ökonomischen Verhältnisse im digitalen Journalismus nicht einfach zu rechtfertigen ist.

Logische Konsequenz ist die Veröffentlichungen von Artikeln, die nüchtern betrachtet einen Informationswert haben, der mit “bescheiden” noch äußerst wohlwollend beschrieben ist. Neben der Aufregung um einen maskenlosen Armin Laschet ist hier auch die journalistische Aufarbeitung der sogenannten Triell-Fernsehdebatten ein anschauliches Beispiel. So war es großen Medienhäusern offenbar wichtig Artikel zu schreiben, die darlegten, wie die Spitzenkandidaten nach der Fernsehdebatte auf Twitter von ihren jeweiligen Unterstützern gelobt wurden – welch überraschende Erkenntnis. Der Journalist Stefan Niggemeier vermerkt dazu bissig: “Wenn man sich also zum Beispiel als Twitter-Nutzer während und nach eines solchen Wahlkampf-Ereignisses fragt, für wen eigentlich die Parteileute diese ganzen Jubelstatements abgeben, lautet die Antwort: für Journalisten.”

Niggermeiers Vorwurf findet sich auf ähnliche Weise inzwischen auch in der internationalen Forschung wieder. So heißt es in einem Aufsatz der beiden Medienforscher*innen Logan Molyneux und Shannon C. McGregor aus dem Jahr 2021, “dass Social-Media-Plattformen (und insbesondere Twitter) sich selbst als Lieferanten legitimer Inhalte positioniert haben, eine Projektion, die Journalisten nicht vollständig in Frage gestellt und manchmal sogar unterstützt haben. Stattdessen verlassen sich Journalisten auf diese Plattformen, um Zugang zu mächtigen Nutzer*innen zu erhalten und um die Worte ‘normaler Menschen’ zu verbreiten. Durch diese Praxis werden Tweets eher wie Inhalte, ein austauschbarer Baustein von Nachrichten, als wie Quellen behandelt, deren Ideen und Botschaften überprüft werden müssen.”

Doch die Rezeption von Twitterdebatten ist nur ein Teil der Herausforderungen, die Journalist*innen im Umgang mit der sozialen Plattform erwartet. Problematisch ist auch die aktive Onlinepräsenz von Medienschaffenden.

Weniger Twitter mehr Journalismus

Die Anwesenheit von Journalist*innen auf Twitter hat andere Auswirkungen. Viele Mitarbeiter großer Medieninstitutionen sind dank ihrer digitalen Präsenz inzwischen Personen des öffentlichen politischen Diskurses – ein Umstand, der die Bedeutung von einzelnen Redakteur*innen erhöht und die Relevanz von Redaktionen deutlich verringert. Zur Selbstvermarktung angehalten, teilen Journalist*innen eigene Artikel, nehmen aber auch – zuweilen impulsiv – an dort entstehenden Debatten teil. Politische und weltanschauliche Vorlieben werden auf der Plattform nicht nur geformt, sie treten auf Twitter auch offen und provokant zu Tage.

Forscher*innen der Universität Trier kamen in einer Studie unter anderem zu dem folgenden Ergebnis: “Die Ergebnisse zeigen einen Trend bei der Nutzung von Twitter als politisches Meinungsmedium unter den Akteuren. Während die Verbreitung von Meinungen unter Politikern stabil bleibt, nutzen Journalisten Twitter-Interaktionen im Laufe der Zeit mehr, um eine subjektive und kritische Meinung auszudrücken, und weniger für die Nachrichtenberichterstattung.” Eine Tatsache, die Medienbeobachter*innen innerhalb und außerhalb von Redaktionen schon länger umtreibt. Der New York Times Kolumnist Farhad Manjoo forderte in seiner Kolumne “Never Tweet” daher bereits 2019 seine Kollegen dazu auf, dem sozialen Medium komplett  zu entsagen.

Aus Manjoos Sicht verwandle Twitter Journalist*innen in “reflexartig reagierende Empörungsroboter, die von diesem oder jenem Hashtag, einer falsch geschriebenen Botschaft des Präsidenten oder einer gezielten Beeinflussungskampagne ausgelöst werden.” Opfer dieser automatisierten Empörungssucht sei dabei nicht nur das Image von Medien insgesamt, sondern auch der Journalismus selbst: “Alles an der Twitter-Oberfläche fördert eine Denkweise, die der journalistischen Recherche zuwiderläuft: Sie stellt Bilder über Inhalte und billige Sprüche über fundierte Debatten, während sie gleichzeitig den zeitlichen Spielraum der Presse stark einschränkt.”

Sicherlich ist das digitale Zölibat, das der Kolumnist seinen Kolleg*innen verschreibt, nicht ohne seine ganz eigenen Probleme und wird dem deutschen Mediendiskurs auch nicht gerecht. Twitter ist inzwischen bereits zu fest in der alltäglichen Medienarbeit etabliert, als dass ein Verzicht denkbar wäre. Es wäre auch falsch anzunehmen, dass in der deutschen Presselandschaft kein Bewusstsein für diese problematischen Aspekte des digitalen Journalismus existiert. Bei einem Blick auf die jüngste Wahlkampfberichterstattung der großen Zeitungen in der Bundesrepublik kann man sich jedoch des Eindrucks nicht erwehren, dass insbesondere in Zeiten großer politischer Mobilisierungsanstrengungen verschiedener politischer Akteure, etablierte Redaktionen ein kritisches Verhältnis zur eigenen aktiven Rolle in den sozialen Medien vermissen lassen. Die Aufgabe von Journalismus ist schließlich nicht nur das Bedienen beziehungsweise Abbilden von Trends, sondern auch die Berichterstattung zu Themen, die in der tagtäglichen Aufregung um persönliche Fehltritte und provokante Äußerungen mitunter unterzugehen drohen.


 

Foto: Bernd Dittrich / unsplash