Wer an eine Essstörung denkt, hat vermutlich zunächst zwei Dinge im Kopf: Eine Frau und jemanden, der sehr, sehr dünn ist. Doch Karl ist weder noch und zeigt damit, wie facettenreich Essstörungen sein können.

Noch in den 90ern sagte Kate Moss: „Nichts schmeckt so gut, wie sich dünn sein anfühlt“. Knochige Models sind schon länger nicht mehr in, stattdessen erobern die Ashley Grahams und Kim Kardashians der Welt die Laufstege und nicht zuletzt das Internet. An Frauen mit etwas mehr auf den Rippen haben wir uns mittlerweile gewöhnt, aber auch die Idealvorstellung von Männerkörpern hat in den letzten Jahrzehnten eine erhebliche Entwicklung durchgemacht. Möglicherweise machte sie sogar einige Schritte zurück. Ob auf TikTok, Instagram oder in Highschool-Serien: Sixpacks und breite Oberarme sind nicht mehr die Ausnahme, sondern viel eher zur Norm geworden.

All das hat erhebliche Auswirkungen. Die Zahlen der essgestörten Menschen und vor allem die der Jugendlichen steigen immer weiter. Gerade bei den wachsenden Anteilen männlicher Essgestörter schlagen die Ärzte Alarm. Lange Zeit wurden Essstörungen von Ärzt*innen und Gesellschaft als „Frauenkrankheit“ abgetan und bei Männern oft fehldiagnostiziert oder erst gar nicht entdeckt. In den letzten zehn Jahren stieg die Zahl essgestörter 12- bis 17-jähriger Männer laut dem Deutschen Ärzteblatt (Stand 2020) jedoch um 60 Prozent. Ein gewaltiger Sprung für eine so kurze Zeit. Nach wie vor leiden Männer mit einer Essstörung unter der Stigmatisierung und fehlender Expertise der Fachärzt*innen.

Karl* ist einer dieser Männer. Der 29-Jährige lebt in München und kämpft seit fast zehn Jahren gegen seine Essstörung. Weshalb sich sein Verhältnis zum Essen plötzlich änderte, weiß er bis heute nicht. Hinter Karl liegen jahrelange Therapien, zahlreiche Besuche bei unterschiedlichsten Fachärzt*innen und nicht zuletzt Unmengen an eigener Recherche. Trotz allem hat er bis heute weder eine eindeutige Diagnose, noch eine sichere Aussicht auf eine Heilung.

Als Karl vor knapp zehn Jahren merkt, wie sein Gewicht immer mehr steigt, versucht er es zunächst mit herkömmlichen Diäten: Fast Food durch gesunde Lebensmittel ersetzen, mehr Bewegung, Verzicht auf Speisen mit vielen Kalorien. All das ohne Erfolg.

Essen beherrscht seinen Alltag. Ständig hat er das Bedürfnis etwas zu sich zu nehmen. Ihm fehlt ein Sättigungsgefühl, schon zehn bis 20 Minuten nach einer Mahlzeit fühlt es sich für ihn an, als würde er verhungern. In der Regel isst er weiter, bis Teller oder Chipstüte leer sind. Das sei aber nicht immer so, erklärt Karl: “Zwischendurch gibt es Zeiten, in denen ich weniger esse oder dieses Verlangen weniger ausgeprägt ist. Und dann kommen wieder die Essattacken. Der Verlauf kann sehr vielfältig sein.”

Nach einiger Zeit muss er sich eingestehen, dass er das Problem alleine nicht mehr bewältigen kann und beschließt, sich Hilfe zu suchen. Ein großer und wichtiger Schritt, den vor allem Männer mit einem ähnlichen Krankheitsbild seltener gehen als Frauen. Eine Psycho- oder Verhaltenstherapie soll weiterhelfen, doch die erste Therapeutin muss sich nach längerer Zeit eingestehen, dass sie nicht weiterkommt. Weder in Ereignissen der Vergangenheit, noch in der Gegenwart findet sie Gründe oder Trigger, die die Essstörung auszulösen scheinen. Zwar diagnostizieren Therapeut*innen bei Karl eine Depression, doch die Ursache für sein gestörtes Verhältnis zu Nahrungsmitteln bleibt unklar.
Es folgen zwei weitere Therapeutinnen, mehrere Ernährungs- und Sportmediziner – ohne Erfolg. Über die Jahre schwankt Karls Gewicht stark, er verliert in manchen Jahren bis zu 20 Kilogramm und nimmt sie daraufhin wieder zu. Immer wieder macht er restriktive Diäten.

Danach versucht er es erneut mit psychotherapeutischen, pharmakologischen und ernährungstherapeutischen Ansätzen. Zu dieser Zeit erreicht er sein Höchstgewicht. Es befindet sich im dreistelligen Bereich bei einem Body-Mass-Index von 31/32. Ein BMI ab 31 gilt als Hinweis auf Übergewicht. Karl hat eine Abneigung gegenüber Mehrgewichtigen oft am eigenen Leib erfahren müssen. Grundsätzlich seien die Leute in seinen „schlankeren“ Phasen freundlicher zu ihm gewesen.

Auch die Selbstdarstellung in den Medien hält Karl für problematisch: „Die Leute schließen einen Pakt mit dem Teufel. Es geht nur um Äußerlichkeit, damit wird häufig eine fehlende Selbstliebe kompensiert. Erreicht man ein Ziel gibt es ein neues. Dass man all das auf Kosten seiner Gesundheit tut, merkt man häufig erst, wenn es zu spät ist.“

Die Misserfolge seiner Bemühungen werfen ihn zurück, für ein Jahr vernachlässigt er Therapien und Recherche bis ein einschneidendes Erlebnis einen erheblichen Gewichtsverlust verursacht. Er versucht das Gewicht zu halten, doch auch das gelingt nicht. Seit 2019 fokussiert er sich mehr auf körperliche Ursachen, Blut- und Hormonwerte, sowie MRT- und Ultraschall-Ergebnisse liefern Hinweise, aber nichts passt so richtig zusammen. Für Karl ist der Weg nach fast zehn Jahren nicht zu Ende. Vor ihm liegt noch einiges, dennoch verliert er nicht den Mut.

„Man muss hartnäckig bleiben und darf sich nicht abschütteln lassen. Es braucht viele Anläufe und vor allem viel Kraft“, sagt Karl. „Nicht alle haben einen so starken Willen, doch wenn ich Betroffenen einen Rat geben könnte, dann, sich niemals entmutigen zu lassen und für sich selbst einzustehen. Egal wie schwarz die Zukunft in dem Moment aussieht oder wie oft man abgewiesen wird.”


*Name von der Redaktion geändert

Dieser Text ist in der UnAufgefordert #259 zum Thema „Erwartungen“ im Februar 2022 erschienen.

Text: Lilian Pürthner
Illustration: Céline Bengi Bolkan