Niemandem fällt es gerade leicht, weitgehend auf soziale Kontakte zu verzichten und zuhause zu bleiben. Wir vermissen Freund*innen, Partner*innen, Verwandte und sehnen uns nach Gruppendynamik, Veranstaltungen, Gemeinschaftsgefühl. Es fehlt uns, Pläne zu schmieden und uns auf Dinge freuen zu können. Die Kontrolle über unser Leben, an die wir uns so sehr gewöhnt haben, dass sie selbstverständlich erschien, ist momentan nicht mehr möglich.
Die Zukunft, die Dauer der Maßnahmen und der Ausgang und weitere Verlauf der Corona-Pandemie sind ungewiss und können nur grob eingeschätzt werden. Das Jahr 2020, voller bereits geplanter Erlebnisse, auf die wir uns gefreut haben, ist einem großen, zermürbenden und eintönigen Fragezeichen gewichen. Die meisten halten sich jedoch an die Kontaktverbote, praktizieren weiterhin Social Distancing und haben ihr soziales Umfeld auf den engsten Freundeskreis minimiert.
Für diejenigen von uns, die weit weg von ihrer Familie sind und in einer anderen Stadt leben, ist es schwer bis unmöglich, komplett auf sozialen Kontakt außerhalb der Familie zu verzichten, vor allem, wenn man psychisch vorbelastet ist. In diesen Zeiten werden Freund*innen zur Ersatzfamilie, wenn sie das davor nicht längst schon gewesen sind. Man zählt auf einander und sichert sich durch den Bund der Freundschaft gegenseitige Unterstützung und seelischen Beistand zu.
Man unterrichtet einander über die gegenseitigen Kontakte und hält den Kreis klein, um das Risiko einer Infektion möglichst gering zu halten und eine Infektionskette, sollte jemand infiziert werden, relativ einfach zurückverfolgen zu können. Nicht selten kann es dabei zu Dissensen kommen: Einige Menschen verstehen unter Social Distancing das, was es ist, nämlich wirklich nur die allerengsten zwei, drei Freund*innen im Einzelnen zu treffen – andere hingegen weiten dies aus, sich nach Wärme echter Begegnungen, jenseits der Fiktion digitaler, sozialer Nähe verzehrend.
Die Brisanz der Situation scheint bei vielen nach mehreren Wochen Quarantäne in den Hintergrund getreten oder gar in Vergessenheit geraten zu sein. Auf den Straßen wird es wieder dichter, die Parks belebter. Der Wunsch nach menschlichem Kontakt, Zuneigung, Spaß und Unternehmungen überwiegt alles andere und jegliche Vernunft, wenn diese je dagewesen ist. Hier und dort wird vereinzelt wieder bei jemandem Zuhause in kleinen oder auch nicht so kleinen Gruppen gefeiert, getrunken oder wie früher zum Kochen verabredet, trotz der ausdrücklichen Warnungen und Verbote. Verstehen die Menschen, die das immer noch tun, schlicht und einfach nicht wie gefährlich das ist, ist es ihnen einfach egal oder haben sie es schon wieder verdrängt?
Was tun, wenn Freund*innen über die Kontaktsperre hinwegsehen?
Diese ignorante Gruppe schien bisher eher ein in den Medien beschriebenes Abstraktum zu sein und niemand aus dem eigenen Umfeld. Doch mittlerweile stelle auch ich fest, dass in meinem Freundes- und Bekanntenkreis die Menschen unruhig werden und sich nicht mehr so strikt an die Eindämmungsmaßnahmen halten können oder es beziehungsweise auch nicht mehr wollen. Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass es mich nicht in den Fingern juckt, ein paar Freunde einzuladen und mit ihnen bei einem Wein einen entspannten Abend zuhause oder einen sonnigen Nachmittag im Park zu verbringen.
Natürlich sehne ich mich danach, mehr als je zuvor, jedoch würde ich meine eigenen Prinzipien untergraben, wenn ich das wirklich tun würde. Gerade lautet die oberste Priorität unverändert solidarisch zu sein und auf soziale Kontakte zu verzichten, solange es unbedingt notwendig ist, um Leben zu retten.
Doch wie soll man sich verhalten, wenn auf einmal die beste Freundin oder der beste Freund, der gerade zu den einzigen und engsten Kontaktpersonen zählt, damit anfängt über die Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen hinwegzusehen und hier und da mehrere Menschen zu treffen oder ausnahmsweise einer kleinen Zusammenkunft von Freund*innen beizuwohnen, die indes ebenfalls der Isolation leid sind?
Wenn Bekannte sich über die Verbote hinwegsetzen, kann man den Kopf darüber schütteln und für sich entsprechende Schlüsse daraus ziehen. Wenn eine der engsten Kontaktpersonen auf einmal Quarantäne-Ermüdungserscheinungen aufweist, indem sie wieder damit anfängt, mehrere Leute auf einmal zu treffen, ist die Sachlage anders, man kann nicht einfach aufhören sie zu sehen, ohne auf Konfrontation zu gehen und das Gespräch zu suchen.
Sie gefährdet damit nicht nur ihre eigene Gesundheit, sondern auch deine und nimmt in Kauf, dass ihr euch nicht mehr sehen könnt, weil du weiterhin an deinen Solidaritätsprinzipien festhalten wirst und eine Infektionskette um jeden Preis vermeiden willst. Vielleicht ist ihr das Ausmaß in dem Moment, als sie sich für das Gruppentreffen entscheidet, nicht vollkommen klar.
Für dich hat ihr Verhalten jedoch weitreichende Folgen: Auf Enttäuschung, Unverständnis und Fassungslosigkeit folgt ein Dilemma: Kann und soll man sich wirklich als Moralapostel aufspielen und einen Konflikt entfachen? Die Person weiß doch eigentlich ganz genau, welches Handeln jetzt gefragt ist. Sie hat sich trotzdem darüber hinweggesetzt und sich aus Ignoranz und der Sehnsucht nach Spaß und Gemeinschaft gegen den Kontakt mit einer ihrer engsten Vertrauten entschieden.
Und jetzt schlüpfst du in die Rolle der Spaßbremse, die ihr die Leviten lesen soll und dazu noch auf einen weiteren Kontakt verzichten muss? Würde man jedoch einem Konflikt ausweichen und darüber hinwegsehen, brächte man sich selbst und die eigenen, weiteren Kontaktpersonen in Gefahr und stünde nicht zu den eigenen Überzeugungen. Wer sich zu Zeiten von Corona an die Regeln hält, bleibt nun mal allein und einsam. Das ist auch der Sinn der Sache, aber es fällt unheimlich schwer, vor allem dann, wenn man temporär von seinen eigenen Freund*innen abwenden musst, die den Ernst der Lage nicht verstanden oder vergessen haben.
Verantwortungsloses Verhalten muss kritisiert werden
Daraus resultiert folgendes Problem: Man fängt unweigerlich an den gesamten Charakter der Person in Frage zu stellen. Wenn sich jemand trotz Corona mit zu vielen Menschen trifft, werden der gesamten Person schnell und automatisch die Attribute Ignoranz und Egoismus attestiert, die das, was man an dieser Person liebt und schätzt, für den Moment überschatten. In Krisenzeiten und Notfallsituationen zeigt sich, auf wen Verlass ist und zuvor im Alltag verborgene Charakterzüge kommen zum Vorschein.
Dass das mit Absicht geschehen ist, wäre eine ungerechtfertigte und pauschale Unterstellung. In den meisten Fällen ist den achtlos agierenden Personen der Folgenreichtum ihres Handelns nicht bewusst. Aber sie müssen damit leben und sinnvolle Konsequenzen daraus ziehen, nämlich sich in Quarantäne zu begeben und zukünftig die Maßnahmen einzuhalten. Trotzdem darf nicht vergessen werden, dass es sich um eine nie zuvor dagewesene Ausnahmesituation handelt. Es ist nicht möglich von allen Menschen dasselbe Durchhaltevermögen und die Fähigkeit allein zurechtzukommen zu erwarten.
Ferner ist es nur verständlich, dass manche Menschen in einer Krisensituation aus dem Affekt heraus und unbedacht handeln und es im Nachhinein bereuen werden. Dennoch ist es richtig und wichtig das verantwortungslose Handeln zu kritisieren, ohne die Person dabei wie ein Blockwart zu denunzieren oder sinnlose Vorwürfe zu machen und einen Streit zu entfachen. Es sollte bei der Bewertung der Tat bleiben und nicht in eine Infragestellung der gesamten Person ausufern.
Vielleicht ist es sinnvoll sich, nachdem die strengeren Beschränkungen aufgehoben sind und sich die Verhältnisse allmählich normalisieren, zusammenzusetzen und retrospektiv das eigene Handeln zusammen zu reflektieren und darüber zu sprechen, um zu erkennen, dass die Verhaltensweise, die an den Tag gelegt wurde, eine durch Überforderung entstandene, exzeptionelle Handlung innerhalb einer Ausnahmesituation gewesen ist und aus einem Dissens wieder einen Konsens werden zu lassen.