Techno in Kiew ist nicht nur gut, sondern auch politisch. Im Gegensatz zum Berliner Hedonismus bedeutet Raven in der Ukraine auch ein Stück Widerstand. Zum ersten Boiler Room der Ukraine, den das Technokollektiv CXEMA nach Kiew geholt hat, reisten Menschen hunderte Kilometer aus Städten wie Lemberg oder Charkiw an, um an einem Freiraum teilzuhaben, der sich ihnen so nur hier eröffnet
Es ist die Party des Jahres. Davon sind alle überzeugt und fast alle jüngeren Interview-Partner*innen erzählen uns im Vorfeld davon – sei es bei unserem Besuch in der Universität oder in den verschiedenen Bars um den Kontraktova-Platz. „Boiler Room x CXEMA“ ist in Kiew omnipräsent. Der erste Boiler Room der Ukraine ist ein richtig großes Ding, dahinter steckt das Kiewer Techno-Kollektiv: CXEMA.
„CXEMA ist in Kiew berühmt. Aber der Boiler Room ist natürlich eine internationale Marke, die Leute anzieht“, sagt Darko Liesen. Er macht die Kommunikation und die Pressearbeit des Technokollektivs. Ziemlich von sich selbst überzeugt erklärt er uns, dass CXEMA auch ohne den Boiler Room schon mindestens 4000 Menschen anlocke. Wegen des berühmten Labels im Hintergrund seien es heute Nacht wohl um die 1000 Menschen mehr.
Darko führt uns über das Gelände. In der gigantischen Fabrikhalle, in der früher Tetrapacks hergestellt wurden, wirken diese 5000 Leute eigentlich ziemlich verloren. Wir werden von Darko auf eine Tribüne geschickt, von der aus wir die tanzenden Massen unter uns überblicken können. Langsam verstehen wir, weshalb sich gefühlt halb Kiew auf diese Party gefreut hat. Der Ort ist besonders, die Musik ist gut, die Inszenierung reinstes Strobogewitter, dazwischen Halbnackte, Maskierte und ganz normale Leute, die zum Takt eines unfassbaren Gewummers zu einer Masse verschmelzen. Geht durch Mark und Bein – wie es sein soll.
Hinter dem Bassgewummer werden die Gespräche schnell politisch
Vor der Halle stehen ein paar hundert Leute unter gleißendem Flutlicht, warten auf ein freies Dixiklo und rauchen. Was sofort ins Auge fällt, ist eine Vielfalt, die wir in dieser Form das erste Mal in Kiew erleben. Das Stadtbild ist hier ansonsten sehr homogen, Männer tragen kurze, Frauen lange Haare, Abweichung findet nicht wirklich statt. Vor ein paar Stunden wurden wir noch als Tourist*innen in der U-Bahn begafft. Hier stechen wir nicht weiter aus der Masse heraus, höchstens vielleicht, weil wir so unauffällig aussehen.
Daria bezeichnet die Party als „freien Raum“. Sie wolle neue Leute kennenlernen, sich mit verschiedenen Jugendkulturen verbinden, vielleicht auch einfach sehen, was so geht jenseits von Wirtschaftskrise und Oligarchenpolitik. Unser Gespräch mit ihr wird schnell ernst. „In der Ukraine gibt es große Probleme mit Gewalt gegen die LGBT-Community“, sagt sie. Die Party hier sei aber eine Art Safe-Space. Auch Taras meint, die schwule Szene sei praktisch unsichtbar in Kiew. Er kenne zwar eine Schwulenbar, aber da komme man nur mit einem Aufzug hin, in dessen Tastenfeld man einen geheimen Code eingeben müsse, damit er in das richtige Stockwerk fahre.
Einige erzählen uns, dass es zwar im gesamten Land mal mehr und mal weniger gute Partys und Raves gäbe. Trotzdem würden sie häufig extra zum Feiern nach Kiew fahren. Da ist zum Beispiel Marina aus Odessa oder Nata aus Lemberg. Nur für diese Nacht sind sie hierher gekommen. Zwischen Kiew und Odessa liegen mehr als 500 Kilometer.
Feiern gegen die Krise
Die Offenheit der Leute hier überrascht uns. Sie berichten uns von ihrer Enttäuschung über die Revolution, ihrer Wut über die Wirtschaftskrise und dem Krieg im Osten. Taras sagt, man sei hier, um einfach zu feiern und seine Probleme zu vergessen. Die Leute seien frustriert über die Folgen der Revolution, sagt Mary. Natürlich will sie hier tanzen, Spaß haben, die Zeit genießen. Mary betont, dass Techno ein Stück Jugendkultur bedeute. Auch sie will neue Leute kennenlernen und verstehen, was die anderen antreibt und bewegt. Deswegen sei sie hier.
Trotz ihres Unmuts über die politische und gesellschaftliche Lage in der Ukraine strahlt Mary eine optimistische Gelassenheit aus. In diesem Land herrsche nun mal eine Kultur, die die Gesellschaft für Revolutionen und politische Umstürze prädestiniere. Allein in den letzten 14 Jahren sei es zu zwei revolutionären Umstürzen gekommen. Das stimme sie positiv.
Die Revolution habe das Raven erst möglich gemacht
Dass die Technoszene in der Ukraine wachsen konnte, sei eine Folge des Euromaidan gewesen, sagt Mary. Die Revolution habe das Raven erst ermöglicht, ist sie sich sicher. Raven sei ein Merkmal einer zunehmend progressiven Gesellschaft. Zufrieden ist Mary damit trotzdem noch lange nicht. „Ich will weiterhin für einen Rechtsstaat kämpfen“, sagt sie.
Je weiter die Nacht voranschreitet, desto kürzer werden unsere Gespräche. Alex ist extrem high, sagt er. Dima erzählt uns, dass er im Winter unbedingt nach Berlin kommen will. Dann muss er schon weiterziehen, für weitere Fragen ist keine Zeit. Pavel will uns noch schnell seine Freundin vorstellen, bevor er wieder in der Menge abtaucht. „Das ist die dunkle Seite des Himmels“, erklärt er zum Abschied, „und ich bin hier für eine gute Zeit.“