Krisen können Menschen zusammenschweißen. Wenn der Wille da ist, eine schwierige Situation zu überdauern. Eine Wende muss kommen, schließlich ist eine Krise kein Dauerzustand. Sie muss vorübergehen. Nicht so in Portugal. Hier hat sich die Krise in den ärmlichen Wohnhaussiedlungen eingenistet. Sie geht einfach nicht weg. Die Familien, die dort leben, zerbrechen daran. Ihr Wille ist nur noch ein Warten auf die Wende.

Der langsamste und längste Wettbewerbsbeitrag bei der diesjährigen Berlinale kommt von der portugiesischen Regisseurin Teresa Villaverde. In „Colo“ dringt sie vorsichtig in das Leben einer Familie ein, die keine Perspektive hat. In langen, lähmenden Kameraeinstellungen und ohne große Ereignisse erzählt sie die Geschichte eines verzweifelten Vaters, einer völlig überarbeiteten Mutter und einer Tochter, die sich jeden Tag fragen muss, was sie antreibt.

Es ist das ganze Ausmaß der Wirtschaftskrise Portugals, das Villaverde auf diese Familie projiziert. Der arbeitslose Vater (João Pedro Vaz) verbringt die Tage auf dem Dach des Hochhauses und der Zuschauer bangt jedes Mal um dumme Gedanken, die ihn heimsuchen könnten. Er springt nicht, er trottet dort nur herum, setzt sich, räumt auf, weint. Er putzt den Kühlschrank. Seine Frau sieht es und sagt, dass sie ihn gerade erst sauber gemacht habe. Wie nutzlos von ihm.

Als die Mutter gleich zu Beginn des Films abends nicht nach Hause kommt, befürchtet Màrio, so heißt der Vater, gleich das Schlimmste. Das tun alle in der Familie. Sie ahnen, die nächste Tragödie kommt bestimmt. Wo bleibt eine Frau nur? Sie ist eine schöne Frau, sie wird doch nicht…Sie ist ihm abgehauen, er ist sicher.

Irrtum, denn die Mutter (Beatriz Batarda) kommt. Sie ist nur spät dran. Sie hat eine Arbeit. Sogar zwei. Nach der Doppelschicht schleppt sie sich nach Hause, sackt ermattet auf das Bett, unfähig, Gefühle zu zeigen. Das hat sie mit Marta (Alice Albergaria Borges), ihrer Tochter gemein. Marta redet höchstens mit ihrem Kanarienvogel über Gefühle. Dabei gäbe es so viel zu erzählen. Von dem Jungen, der ihr gefällt, von der Schule, die ihr nicht gefällt, von den Sorgen ihrer besten Freundin, von ihren eigenen. Doch reden geht nicht. „Das wahre Leben ist das Schlimmste“, sagt Marta auf einer Party. Sie ritzt sich. Vater und Mutter bemerken das nicht.

So hat jeder in der Familie seine Sorgen. Den anderen helfen können sie kaum. Höchstens massiert die Mutter den Vater oder kratzt alles Geld für die Monatskarte der Tochter zusammen. Mehr ist nicht drin. Die erste Frage, die sie sich untereinander stellen, wenn sie sich sehen, bekommt eine bedrückende Dimension: „Hast du etwas gegessen?“. Die Zukunft dieser Familie ist so leer wie ihr Kühlschrank.

Was „Colo“ so entsetzlich deutlich macht, ist, dass Armut auch in Europa herrscht. Unbequem und dennoch richtig und wichtig. Auch künstlerisch gelingt der Film. Die Kamera fängt zaghaft, bevorzugt in der Totale und in unaufdringlicher Vorwärtsbewegung das zwischenmenschliche Verhältnis der erschütterten Familie ein. Sie nistet sich, wie die Krise, die lange nicht mehr nur eine finanzielle ist, selbst in die Wohnung ein. Sie beobachtet, wie wenig später der Strom abgestellt wird, weil kein Geld für die Rechnung da ist. Fortan brennen Kerzen, die Handys laden bei abwechselnden Nachbarn.

Der Alltag wird zur Demütigung, bis die einschläfernde Tatenlosigkeit den Vater zu einer Verzweiflungstat treibt. Er bedroht einen ehemaligen Mitschüler, weil dieser ihm keinen Job geben kann. Es kommt zur Schlägerei, Màrio wird verletzt am Strand ausgesetzt. Ist das die erwartete Tragödie? Nein, auch der Vater wird zurück finden. Er schaut nur noch eine Weile auf das Meer. Wie es wogt und rauscht.

„Colo“ ist ein ungewöhnlich ruhiges Drama, eine lebensnahe Charakterstudie und sicherlich auch eine Anklage gegen die portugiesische und europäische Politik. Ein traurig stimmender, ein schöner Film.

 

Bären-Potential: Warum eigentlich nicht?

BZQ-Punkte: Ein Ausflug in die bittere Realität Portugals.

Prokrastinationspotential: Trotz der Länge und Langsamkeit traurig hoch.

Kuschelfaktor: Eher ein liebevolles Tasten und Trösten.

UnAuf-Punkte: 3 von 5

 

Colo – Regie: Teresa Villaverde . Mit: João Pedro Vaz, Alice Albergaria Borges, Beatriz Batarda, Clara Jost u.a.

 

Fotos:

© Alce Filmes