Eliza Hittman erzählt in ihrem mit dem Jury-Preis der Berlinale 2020 ausgezeichneten Film mit großer Sensibilität und ungezügelter Rohheit eine Abtreibungsgeschichte, die beispielhaft, aber niemals schablonenartig daherkommt.

Auf der Bühne einer Highschool irgendwo im ländlichen Pennsylvania steht ein Mädchen mit einer Gitarre in der Hand und singt ein selbstgeschriebenes Lied über ihren Ex-Freund. Ihr Name ist Autumn (Newcomerin Sidney Flanigan). Er bringe sie dazu, Dinge zu tun, die sie nicht tun möchte, mache sie zu einer Person, die sie nicht sein will. Plötzlich ertönt ein lautes “Slut” aus der Anonymität der Zuschauer*innen. Doch wie das in Schulen eben so ist, besonders Schulen ländlicher Region, ist da nichts anonym. Jeder weiß, wer das auf der Bühne ist, genau so wie jeder weiß, wer gerufen hat. Alles scheint sich so früh bereits anzuschicken, eine konventionelle Geschichte um eine High-School-Außenseiterin zu stricken, bis ― ja bis ― der Schwangerschaftstest positiv ausschlägt. 

A positive is always a positive 

Die Nachricht erhält Autumn in der örtlichen Arztpraxis; sie befinde sich in Woche 10. Mit ihrer Mutter zu sprechen kommt nicht in Frage, ebenso wenig steht es zur Debatte, ein Kind zu bekommen, wenngleich die Ärztin alles versucht und ihr, gesetzt des Falles, sie könne “abortion-minded” sein, eine alte Videokassette mit dem Titel Hard Truth vorspielt. Nach kurzer Recherche wird klar, dass sie im Bundesstaat Pennsylvania nicht mit Hilfe wird rechnen können. Mit ihrer Cousine Skylar (Talia Ryder), mit der sie im örtlichen Supermarkt arbeitet, setzt sie sich in den Bus, um sich im liberalen New York City einer Abtreibung zu unterziehen. 

Man sollte an dieser Stelle nicht in die Falle tappen, das hier verhandelte Problem als rein US-amerikanisches zu betrachten. Denn auch in Deutschland sind Abtreibungen grundsätzlich kriminalisiert (§218 Strafgesetzbuch), auch in Deutschland gibt es dank des Paragraphen 119A nach wie vor keine Informationsfreiheit für die Praxen, was dazu führt, dass die potenziellen Patientinnen über andere Wege herausfinden müssen, ob die von ihnen gewählte Praxis überhaupt Abtreibungen durchführt oder nicht. Der paternalistische Impetus, der das Ureigenste, den menschlichen Körper, mit dem Einsetzen der Schwangerschaft plötzlich zum Gemeingut erklärt, schlägt sich also auch im deutschen Recht nieder. 

Transgression über Transgression

Hittman erzählt diese Geschichte als eine beispielhafte, indem sie die Charaktere nicht stärker als nötig beleuchtet. Ähnlich wie in Kitty Greens The Assistant, wird hier im Kleinen versucht, das Große sichtbar zu machen. Die fehlende Hilfestellung für ungewollt schwangere Frauen ist ein landesweites Problem, und so ist es eine kluge Entscheidung, die Geschichte zunächst einmal im Ländlichen zu verorten und eine 17-Jährige ins Zentrum zu stellen.

Durch diese Konstellation wird ein Motiv, das den Film durchzieht wie kein anderes, untermalt: die Schwellenüberschreitung. Denn nun sind es zwei Minderjährige, die erstmals nach New York City fahren, die ihre Eltern belügen, die durch das Überqueren der Staatsgrenze Pennsylvanias ganz buchstäblich eine Grenze überschreiten. Damit ist es indes nicht getan. Wann immer die beiden eine neue Schwelle überschreiten müssen, so etwa in der New Yorker U-Bahn oder an den Sicherheitseingängen der Brooklyner Klinik, vor der sich eine Masse unermüdlicher Abtreibungsgegner*innen zusammenfindet, fängt die Kamera es auf herrlich grobkörnigen 16 Millimeter ein, eine Ästhetik, die diese unbeschönigte Geschichte auch einfordert. 

Und wenngleich wir nicht sonderlich viel über die Person Autumn erfahren, gelingt es Hittman und somit Autumn, uns für diese einzunehmen. Mit viel Herz zeichnet sie hier ein Bild unbeholfener, aber niemals versiegender weiblicher Solidarität, die in einer der bittersüßesten Szenen dieses Kinojahres mündet. Die Betonung auf den weiblichen Körper ist in diesem Zusammenhang von entscheidender Bedeutung, es erinnert, ohne es gleichsetzen zu wollen, an Ta-Nehisi Coates Between the World and Me, insofern, als es der (weibliche) Körper ist, dessen Aneignung sich die dominante, überwiegend weiße, männliche Bevölkerung anmaßt.

Bei all dem Lob ist es dennoch ein kleiner Wermutstropfen, dass Hittman das Problem nicht auch ökonomisch zu Ende denkt, dass sie nicht hinterfragt, dass viele US-Amerikanerinnen schlicht an den Kosten zerbrochen werden, die die Behandlung der Abtreibung verlangt. Diese fehlende Intersektionalität, die das Ökonomische weitgehend ausklammert, scheint beinahe ein blinder Fleck im Gegenwartskino zu sein, weshalb Filmemacher wie Ken Loach, Bong Joon-ho oder die Dardennes dieser Tage umso wichtiger sind. 

Die Auszeichnung mit dem Großen Preis der Jury der 70. Berlinale ist dessen ungeachtet durchaus lobenswert. Und wer weiß, wäre Hittmans Film nicht schon auf dem Sundance 2020 gelaufen, er hätte wohl noch größere Chancen auf den Goldenen Bären gehabt.

Never rarely sometimes always

Regisseurin: Eliza Hittman

Filmlänge: 101min

Produktionsland: USA

 

(Foto: © 2019 Courtesy of Focus Features)