Es ist Februar. Ein Monat mit besonders großer Bedeutung für die jungen Menschen in der Fashion- und Hipster-Hauptstadt. In Berlin-Mitte ist mal wieder die Hölle los. Gestylte Menschen mit Einweg-Kaffebechern schieben sich leicht gehetzt durch die Straßen, um gleich noch einen der begehrten Plätze zu ergattern. Nein, ich rede nicht von der Berlinale. Ich rede vom Jakob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum – the place to be.

Man kann sich glücklich schätzen, wenn man an einem Sonntag Vormittag zehn Minuten nach Öffnung des Grimm-Zentrums noch einen Tischplatz im siebten Stockwerk finden kann und nicht wie ich letzte Woche auf dem Fußboden zwischen den Regalen sitzen muss. Ich wage die Wette einzugehen, dass der Ansturm auf die Plätze im Grimm-Zentrum sogar noch größer ist, als der Ansturm auf den Vorverkauf der Berlinale-Tickets. Schafft man es an einem Wochentag tatsächlich vor der Bibliotheks-Öffnung um 8:00 Uhr morgens anzukommen, sieht man schon aus Entfernung die wartenden strebsamen Studierenden vor den Glastüren bibbern und es würde mich tatsächlich nicht wundern untern ihnen den ein oder anderen Klappstuhl zu entdecken. Eigentlich hätte man seine Wohnung auch bei Airbnb untervermieten können. Wir wohnen ja eh alle in der Bib. Ich hätte reich werden können. Wenn ich in meinem VWL-Studium eines gelernt habe, dann wie man Geld macht. Der Coffeeshop gegenüber vom Grimm-Zentrum weiß auch, wie man Kohle eintreibt. Würfelgroße Brownies für 2 Euro und Espresso, verziert mit Latte-Art zu Wucherpreisen. Aber wir kaufen ihn dennoch. Verständlich, denn wir sind müde und zählen die Tage. Die Tage bis zur Abgabe der Hausarbeit, der Countdown bis zu der einen Klausur, die alles entscheidet.

Wenn ich es Abends noch schaffe meine außeruniversitären Bekanntschaften zu pflegen wird auch in diesen Kreisen dem einen Tag entgegengefiebert: die berühmt berüchtigte Verleihung des Goldenen Bären. Sie seien sich noch nicht sicher, ob es dieses Jahr mit den Gästeliste-Plätzen für die Abschlusssparty klappt, erzählen sie leicht panisch. Panik wird bei mir im Moment durch ganz andere Sachen ausgelöst. Vielleicht weil es nur noch wenige Tage bis zu den Prüfungen sind und ich noch gemütlich die Grundlagen des letzten Semesters wiederhole. Vielleicht weil sich plötzlich Unsicherheit einstellt, ob die liebe Agnes meine Klausurtermine eingetragen hat. Eine beschwipste Freundin reißt mich mit der Frage, warum ich eigentlich immer mit meinem Wanderrucksack unterwegs sei aus den Gedanken. „Weil ich aus der Uni komme und 246314 Bücher und einen Laptop dabei habe!?!?“ entgegne ich ihr. Sie kann es nicht fassen. Sonntag. Freizeit. Berlinale. Uni. Irgendetwas stimmt da nicht.

Wer zur Hölle hat bitte das Datum der Berlinale festgelegt? Wahrscheinlich ein herzloser Mensch der nie studiert hat, es zutiefst bereut und nun allen Studierenden einen bösen Streich spielen will. Es ist schließlich Februar und Festival-Saison ist doch eigentlich in der wärmeren Jahreszeit. Bis 1977 fand die Berlinale im Sommer statt. Früher war einfach alles besser. Sehnsüchtig erinnere ich mich an meine Schulzeit zurück. Mit meiner Englisch-Lehrerin machten wir mal einen Ausflug zu einem Film aus der Kinder- und Jugendsektion Generation. Vielleicht hätte ich doch Grundschul-Lehramt und nicht VWL studieren sollen?

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Ich, Sechstie, befinde mich in einem Tutorium, das im Studienverlaufsplan im Ersten Semester steht. Ich belausche ein Gespräch der Mädelsgruppe in der Reihe vor mir. „Nächste Woche wollte ich eigentlich sechs Filme sehen. Aber ich habe Klausuren. Sechs Klausuren, Sechs Filme. Hihi“. Ich verspüre den Drang, mich zu ihr nach vorne zu lehnen und ihr in die Wangen zu kneifen. Ersties sind einfach süß, naiv und haben keine Ahnung. Zur selben Zeit finde ich über What’s App heraus, dass sich meine Kolleg*innen auf einem Berlinale Jury Q&A befinden. In meinem Tutorium habe ich auch viele Q’s, nur leider keine A’s. Ich finde, es ist ein Q&D: Questions and Desperation.

Ich bin wieder in der Bibliothek und versuche, mich irgendwie zu motivieren. Die Homepage mit dem Exmatrikulations-Antrag habe ich mittlerweile wieder geschlossen und das Dokument vorsichtshalber in den Papierkorb verfrachtet. Der Kontakt zur Außenwelt am Vorabend tat mir gut. Es gibt ja auch noch all die Jahre nach dem Studium, also sollte ich zusehen, dass ich dieses so schnell wie möglich zu Ende bringe. Mein Gehirn lässt sich einfach austricksten. Gekonnt jongliere ich mit Formeln und fühle mich wie die Queen of Statistics. Ein Anruf meiner Mutter unterbricht meinen Lernfluss. Sie habe ganz aufregende Neuigkeiten: eine Freundin habe gute Kontakte und käme noch an Berlinale-Tickets. Ich solle ihr ganz fix Bescheid geben, wann ich Zeit habe. Flüsternd stehe ich zwischen den Büchern und versuche ihr zu erklären, dass Zeit haben im Moment nicht auf meinem Tagesablauf steht. Statt Mitleid bekomme ich eine Moralpredigt über meinen Lebensstil. Zeit habe man immer, man müsse sie nur richtig einteilen und seine Präferenzen setzen. „Jaja, Mami, ist schon klar“, denke ich und erwische mich dann dabei, wie ich plötzlich durch das Online-Programm der Berlinale stöbere. Belohnungen nach einem langen Lerntag müssen auch mal sein.

 

Fotos: Luisa Jabs und Vilma-Lou Sinn