Dietmar Arnold führt seit 22 Jahren durch die Katakomben Berlins. Wer mitreisen will, zahlt 15 Euro. Was erleben die Besucher*innen tief unter der Oberfläche der Hauptstadt?

Der Eingang zur Unterwelt liegt am U-Bahnhof Gesundbrunnen hinter einer Gittertür und Dietmar Arnold hat den Schlüssel. Er bereist die Unterwelt seit 22 Jahren. Wer mit ihm reisen möchte, zahlt 15 Euro. Jetzt steht Arnold, gelbe Warnweste, Zigarette im Mundwinkel, vor der Tür und fragt: „Seid ihr vollzählig?“ Alle da. Er kramt seinen Schlüsselbund hervor und öffnet die Tür. Vierzig Stufen geht es in die Tiefe. Unten angekommen öffnet Arnold eine massive Stahltür und zeigt auf die dahinter liegenden zwei weiteren Türen. „Hinter diesen Stahltüren wartet ein riesiges Labyrinth“, sagt er. „Von zwei Millionen Besuchern ist aber noch keiner verloren gegangen.“ Er greift zu seiner Taschenlampe und dreht den Schlüssel.

Auf der anderen Seite sind die Betonwände grau, die Gänge niedrig, aber Arnold geht aufrecht durch die verwinkelten Gänge. Er öffnet schwere Türen und dringt immer tiefer ein in die Vergangenheit. „Acht geben auf euren Datenspeicher“, sagt er und schlägt mit der flachen Hand gegen die niedrige Decke. Die U-Bahn, die nur wenige Meter tiefer fährt, lässt den Boden vibrieren. „Wir befinden uns direkt über dem U-Bahnhof Gesundbrunnen“, sagt er und zeigt mit der Taschenlampe auf eine alte Berlin-Karte. Mit 14 ist Arnold das erste Mal in die Unterwelt gereist. Er stieg in den Leitbunker des Flakturms im Volkspark Humboldthain und erkundete die verlassenen Luftschutzbunker im Diplomatenviertel. „Hätten meine Eltern das gewusst, hätte es richtig Ärger gegeben“, sagt er. Arnold sah die Unterwelt als einen großen Abenteuerspielplatz, in dem er Dinge aus vergangenen Zeiten entdecken konnte.

Bei einem Studienaustausch im Jahr 1988 geriet er in Paris dann an die Cataphiles, Liebhaber*innen der Pariser Katakomben. Mit ihnen erkundete er das unterirdische Stollennetz von mehr als 300 Kilometer Länge und war fasziniert. Er stellte sich die Frage: Was ist in Berlin? Also gründete der studierte Stadt- und Regionalplaner 1997 den Berliner Unterwelten e.V. Am Anfang hatten sie 15 Mitglieder. Sie fanden heraus: Rund 40 Prozent der Bauwerke in der Berliner Innenstadt befinden sich unterhalb der Oberfläche. Heute haben die Berliner Unterwelten 480 Mitglieder und bieten Führungen und Bildungsseminare an. Für sein Engagement zum Erhalt des Untergrundes erhielt Arnold im Oktober 2018 den Verdienstorden des Landes Berlin. „Stellvertretend für den gesamten Verein“, sagt er.

Notbeleuchtung schimmert an der Decke

Fünfzehn Meter unter der Erdoberfläche ist immer Nacht. Eine Notbeleuchtung flimmert an der Decke. Zwischenwände machen aus der Anlage ein Labyrinth. Verwinkelte Wege und Querwände in Abständen von höchstens fünf Metern sollten Druckwellen von Bombenexplosionen brechen. Arnold legt einen Schalter um, die Notbeleuchtung geht aus. Nur Arnolds Silhouette ist noch zu sehen, seine Signaljacke leuchtet im Dunkeln nach. Durch ein kleines Fenster blickt er auf die Gleise der U8. An der Wand leuchten Streifen, die den Weg zurück in die Oberwelt weisen. Dietmar Arnold geht in die entgegengesetzte Richtung, es wird wieder hell. Am Ende eines grauen Ganges steht er an einer Gabelung und geht nach rechts. „Die Unterwelten sind wie Zeitkapseln, in denen die Zeit stehengeblieben ist“, sagt er.

Er berichtet über Fluchten aus Ost-Berlin, die in Tunneln und in der Kanalisation spielten — und was das DDR-Regime dagegen unternahm. „Das ist die einzige noch erhaltene GV-Matratze Berlins“, sagt er und zeigt auf einen Gitterrost mit scharfen Stahlspitzen. In Kombination mit Lichtschranken wurden die Grenzverletzer-Matratzen in den Tunneln und an den Bahnhöfen installiert, um Fluchten zu verhindern. Viele flüchteten auch über sogenannte Geisterbahnhöfe — U-Bahnhöfe im Osten, an denen die West-Züge ohne Halt durchfuhren. „Ich habe mit meinem Bruder immer ein Spiel gespielt. Sieger war, wer an den Geisterbahnhöfen die meisten Grenzsoldaten in ihren Verstecken zählte“, sagt Arnold. Diese standen im Schutz der Dunkelheit am Bahnsteig und sorgten dafür, dass keine Ost-Berliner auf die mit 25 Kilometer pro Stunde vorbeifahrenden Züge sprangen.

In den 80er-Jahren wurde die Anlage zum provisorischen Atomschutzbunker umfunktioniert. Damals hätten 1.300 Menschen zwei Tage lang Schutz finden können, bis die Vorräte aufgebraucht gewesen wären. Danach wären sie wahrscheinlich eine Station weitergefahren: „Der U-Bahnhof Pankstraße kann zum Bunker umgebaut werden und ist die einzige Atomschutzanlage Berlins, die auch heute noch voll funktionsfähig ist“, sagt er. „Wenn etwas passieren sollte wisst ihr, wo ihr hinmüsst. Aber Vereinsmitglieder haben Vorrang“, sagt Arnold und grinst.

Hinter der Tür erscheinen Keramikfliesen

Auch hier sind einige Räume weiter Feldbetten aufgereiht, an der Wand hängen Gasmasken – riesige Wasserkanister und in Plastik eingepackte Matratzen stehen bereit. Die Gruppe folgt Arnold durch die verflochtenen Gänge, bis er plötzlich vor einer Tür stehen bleibt. Gedämpfte Stimmen und Schritte sind zu hören. Dietmar Arnold dreht den Schlüssel. Hinter der Tür erscheinen auf einer Wand unzählige Keramikfliesen in drei verschiedenen Grüntönen. Er tritt in die Haupthalle des U-Bahnhofs Gesundbrunnen.

Es geht für eine kurze Strecke wieder in die Gegenwart, U8, zwei Stationen bis Bernauer Straße. „Die Zeitreisenden steigen bitte hier aus“, sagt Arnold nach drei Minuten Fahrt. Er geht die Treppen hoch und bleibt, wenige Hundert Meter entfernt, im Innenhof der Brunnenstraße 143, stehen: „In der Heidelberger und Bernauer Straße wurden viele Tunnel in Kellern von Wohnhäusern gebaut“, sagt Arnold. Einen solchen Tunnel haben seine Mitstreiter*innen und er gefunden.

In den Kellergewölben der ehemaligen Oswald-Brauerei sind die Wände steinig. Die Luft ist kälter als im Bunker, Arnolds Atem wird sichtbar. Auf der einen Seite liegt morsches Holz, auf der anderen Seite eine Treppe. Arnold geht tiefer und tiefer, bis er vor einem Haufen Schutt innehält. Hier baut der Verein einen 30 Meter langen Besucher*innentunnel, der einen echten Tunnel aus den Jahren 1970/71 kreuzt. Durch ein archäologisches Fenster am Ende des Betontunnels zeigt Arnold den Besucher*innen den einzigen erhaltenen Fluchttunnel Berlins. „Virtuelle Realitäten muss man hier nicht schaffen, alles bei uns ist echt“, sagt Arnold. Die seit 48 Jahren unberührte Erde schimmert im Licht.