In dem mit einfachsten Mitteln produzierten Essayfilm Tu me abrasas (You burn me) des argentinischen Regisseurs Matías Piñeiro geht es an der Oberfläche um die antike lesbische Lyrikerin Sappho und den italienischen Schriftsteller Cesare Pavese. Untergründig ist er ein Lehrstück über die Komplexität von Leben, Lieben und Literatur – und gegen die Verlockung der allgegenwärtigen Simplifizierungen.

Als Cesare Pavese sich auf dem Höhepunkt seiner Karriere am 27. August 1950 im Turiner Hotel Roma das Leben nahm, fand man auf dem Nachttisch neben ihm ein Exemplar seines drei Jahre zuvor erschienenen Buches Dialoghi con Leucò. Auf der ersten Seite hatte er notiert: „Ich verzeihe Allen und bitte Alle um Verzeihung. In Ordnung? Labert nicht zu viel drüber.“

Dialoghi con Leucò, Gespräche mit Leuko, war das Buch, das Pavese für sein gelungenstes hielt. Der Bewunderer der angelsächsischen, vor allem der amerikanischen modernen Literatur, hatte darin die antiken Mythen sprachlich modernisiert und ihre Thematik für die Gegenwart fruchtbar zu machen versucht – ohne sie jedoch inhaltlich zu verzerren oder plump an zeitgenössische Problematiken anzupassen. Die jeweils nur wenige Seiten umfassenden Dialoge spielen sich zwischen Göttern und Sterblichen ab, so auch einer zwischen der mythischen Nymphe Britomartis und der historischen Dichterin Sappho, die vor 2500 Jahren auf der Insel Lesbos lebte. Ihre heute fast ausschließlich in Fragmenten erhaltene Lyrik gilt als erste Thematisierung von lesbischer Liebe in der Literaturgeschichte.

Das alles muss vorausgeschickt werden, wenn von dem ungewöhnlichen Essayfilm Tú me abrasas die Rede sein soll. Der in New York lebende argentinische Regisseur Matías Piñeiro tut es schließlich selbst genauso: Ein Prolog bildet zu Beginn des Films in einfachsten analog flirrenden Bildern die Schauplätze Turin, das Albergo Roma und die Felsen von Lesbos ab. Gleichzeitig wird in den Worten von Natalia Ginzburg, selbst Schriftstellerin und enge Freundin Paveses, dessen Leben und Sterben in Turin geschildert, bevor die Kamera auf die Neuinterpretationen der Gedichte Sapphos durch die kanadische Autorin Anne Carson hält. Bereits hier kündigen sich das Ineinander und Umeinander der Erzählungen und Narrative an; die vielfältigen Verschlingungen von Handlung und Rezeption der ständig aufeinander Bezug nehmenden Kunstwerke im Film beginnen zu verschwimmen. „In diesem Film sollen die Geschichten von Pavese und von Sappho erzählt werden“, heißt es dann schließlich aus dem Off.

Gesagt, getan: Der Dialog zwischen Sappho und Britomartis startet als Whatsapp-Chat in immer noch analogen Bildern, das Smartphone in der Hand der Sappho vor mediterraner Kulisse, mitsamt rauschenden Wellen und Pinienwäldern. Kaum ist diese aktualisierende Bedeutungsebene vorgedrungen, befinden wir uns allerdings schon wieder zwischen den Seiten des Anne Carson-Bandes, weil etwas im Chat den Regisseur, der aus dem Off zu hören ist, an ein neues Gedicht erinnert hatte. Das Ganze wird nicht einfacher nachzuvollziehen, weil die Originale in Griechisch, Italienisch und Englisch verfasst sind; eingesprochen werden sie im italienisch anmutenden argentinischen Spanisch, und die englischen Untertitel tun zuletzt noch ihr Bestes, um die Konzentrationsfähigkeit des Publikums schließlich Pirouetten drehen zu lassen.

Nun springt die Handlung auch noch in ein sehr europäisch aussehendes Museum, vielleicht steht es aber auch in Buenos Aires – wer weiß das schon genau? Während von der Zeugung der Aphrodite durch die unfreiwillige Kastration des Uranos durch seinen eigenen Sohn Kronos die Rede ist, die wiederum von dessen Mutter Gaia angeregt wurde, und der Samen Uranos‘ durch das Meer befruchtet wurde, filmt die Kamera ganz dezent eine Skulptur aus klassischer Zeit, der der Penis fehlt. Dass das subtil ironisch wirkt, liegt vor allem daran, dass man schon jetzt Mühe hat, den zahlreichen literaturwissenschaftlich anmutenden Querbezügen zu folgen.

Trotzdem wirkt die ganze Szenerie, obwohl heillos verworren, doch ästhetisch. Das ist einerseits Piñeiros sich inzwischen auch wiederholenden Bildern von Meeresschaum, Wellen und Insellandschaft zu verdanken, andererseits und vor allem aber den großen Texten von Pavese und Sappho sowie den Nachdichtungen und Lebensbeschreibungen von Carson und Ginzburg.

Zwar mischt sich ein Text in den anderen und eine kohärente Geschichte ist zuletzt kaum mehr zu identifizieren – aber das ist auch nicht der Sinn der Sache. Schon Pavese hatte im Italien der dreißiger und vierziger Jahre die Verschränkung von antiker Mythenwelt und moderner Literatur als historischen Resonanzraum verwandt, der ihm vor der banal-obszönen Realität des Faschismus einen Schutzraum bot. Genau dieser, so hat es Regisseur Piñeiro im Vorfeld des Films erklärt, ist jetzt gerade wieder durch den neuen argentinischen Präsidenten Javier Milei bedroht. Der neoliberal-reaktionäre Horrorclown, der auf seinen Wahlkampfveranstaltungen gern mit Kettensägen fuchtelte und dabei ankündigte, alle staatlichen Subventionen – auch für die Künste – abzusägen, wird sich von einem Essayfilm zwar nicht schrecken lassen. Der historische Resonanzraum aber, der durch die komplexe Auseinandersetzung mit Kunst erzeugt wird, kann im besten Fall langfristige Perspektiven des Widerstands eröffnen – über die zerstörerische faschistische Dummheit hinaus. Tu me abrasas ist in seinem komplexen und sensiblen Umgang mit den urmenschlichen Themen Liebe und Tod nur ein mögliches Beispiel dafür.


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