Russlands Angriff auf die Ukraine veränderte für Lettland alles – oder gar nichts, je nachdem, wer spricht. Junge Menschen in Riga kämpfen mit ihren Identitäten, obwohl sie in Lettland geboren sind. Drei von ihnen erzählen von ihren Gedanken und Gefühlen.

Seit August 1991 ist Lettland unabhängig von der Sowjetunion. Der oft als fremd empfundene Staat ist abgezogen, aber er hat Überbleibsel hinterlassen. Etwa 33 Prozent der lettischen Staatsbürger*innen sprechen heute noch russisch als Muttersprache. Das bietet einen Nährboden für Konflikte, die bis heute anhalten.

Junge Lett*innen denken sehr unterschiedlich über ihr Land, aber nur selten merken sie das auch. Anastasija studiert Bauingenieurswesen und ist Erstakademikerin in ihrer Familie. Ihre Mutter arbeitet bei der lettischen Post, ihr Vater ist Bauarbeiter. Auf die Frage, ob das für sie eine besondere Herausforderung sei, antwortet sie nonchalant: „Nein, nicht wirklich. Mein Studienfach ist einfach schwer.“ Sie ist Lettin, bezeichnet sich zusätzlich als „ethnische Russin“. „Ethnisch-lettische“ Lett*innen bezeichnen sie als „Russisch-sprechende Lettin“ – ein Begriff, der aus ihrer Sicht nicht wirklich zutrifft. Dass sie ihn als beleidigend empfindet, sagt sie nicht.

Wie aber identifiziert sie sich selbst? Sieht sie sich als Lettin? Für sie ist das keine einfache Frage. „Für mich sind das mehrere Identitäten. Ich bin lettische Staatsangehörige, aber ethnisch bin ich Russin. Es gibt keinen Begriff, um uns wirklich zu beschreiben, wie Afroamerikaner in den USA. Schön ist das nicht.“ Während ihrer Schulzeit gab es deswegen allerdings keine Probleme, wie sie sagt. Die russisch sprechenden Lett*innen seien meist unter sich geblieben, und hätten damit jegliche Diskriminierung vermieden. Allerdings ist das nicht alles: Im Alltag findet zwar keine Diskriminierung statt, aber damit ist institutionelle Diskriminierung nicht ausgeschlossen. „Eine Freundin von mir hat auch an der Universität studiert. Eines Tages wurde sie in das Büro ihres Lehrers gerufen – und der sagte ihr, dass sie ihre Prüfung nicht würde ablegen können. Er würde es keinem Russen mehr erlauben, an dieser Universität seinen Abschluss zu machen.“

Die lettische Gesellschaft schottet sich ab, so sieht das Anastasija. Sie spaltet sich in mehrere Gruppen, die immer weniger miteinander zu tun haben. Auf einer Hochzeit habe sie erlebt, dass „die ethnischen Letten und ethnischen Russen voneinander getrennt geblieben sind. Die einen standen auf der einen Seite eines langen Tisches, die anderen auf der anderen Seite, und unterhielten sich untereinander.“ Ob sich die Situation geändert habe, als sie an die Universität kam? „Ich bin in meiner Bubble geblieben.“

Once upon a time…in Riga

Wenn die Perspektive wechselt, stellt sich die Lage meist auch anders dar. Das gilt besonders für Martis, der aus den USA nach Riga gezogen ist. Er stammt aus einer lettischen Familie, seine Großeltern flohen vor der sowjetischen Besetzung Lettlands nach Amerika. Dort vergaßen sie aber weder Sprache noch Kultur: „Ich bin praktisch lettisch aufgewachsen. Wir haben lettisch geredet, lettische Bräuche gelebt, alles gelernt, Geschichte, Grammatik, Literatur.“ Als selbstständiger Sprachlehrer reiste Martis erst nach Riga, um dort Lett*innen Englisch beizubringen. Während der Coronapandemie wechselte er nach Spanien, mit derselben Arbeit. Nun lebt er wieder in Riga, hier bringt er Lett*innen Englisch und Spanisch bei.  

Wie sieht er sich selbst? Was für eine Beziehung hat er zu seinem Land? „Ich bin Lette und Amerikaner. Ich kann mich nicht entscheiden. In den USA wuchs ich mit einer starken Bindung zu Lettland auf, ging ins lettische Summercamp, feierte die lettische Kultur. Aber meine Freunde sind Amerikaner, und das ist mir auch wichtig.“ Lettland besteht für ihn aus zwei Ländern: „Es gibt Riga und Lettland. Und genauso gibt es zwei lettische Identitäten. Es gibt die, die in Riga leben, und die, die außerhalb von Riga leben Das sind die zwei Hauptsachen.“ Ethnisch russische Lett*innen erwähnt er nicht. Zwar ist er in vielen Ländern unterwegs, aber verlassen will er Lettland nicht mehr. Ihn bewegen Fragen, die das ganze Land beschäftigen, und auch er sucht nach Antworten. „Die eine Million-Dollar-Frage ist, wie Lettland wieder wächst. Seit der Unabhängigkeit schrumpft die Bevölkerung. Das hat zum Teil mit der Freiheit in der EU zu tun, weil alle reisen können, wohin sie wollen. Aber es gibt einen zweiten Grund.“ Nun räuspert Martis sich und macht eine Pause. Das Gespräch findet in einem Park statt, es herrscht reger Betrieb.

„Ich spreche jetzt ein bisschen leiser, ich muss aufpassen, was ich sage. Es gibt hier diese tiefe Abneigung gegen russisch sprechende Menschen. Dafür gibt es nachvollziehbare Gründe, Lettisch war während der Besatzung verboten. Das hat sich jetzt eben umgedreht. Auch deswegen verlassen viele Menschen Lettland.“ Als er sich über die Regierung, Steuern und das Wirtschaftssystem auslässt, wird seine Stimme wieder lauter und fester. Auch über Europa spricht er offen. „Europa hat viele Vorteile. Ich bin überall hin gereist, habe viele Kulturen und Gesellschaften kennengelernt. Es ist wirklich interessant zu sehen, wie das hier funktioniert, verglichen mit meiner Heimat, den USA.“ Für ihn hat sich allerdings das ganze Lebensgefühl mit dem 24. Februar 2022 geändert.

„Hier in Lettland hat man das schon gemerkt, auch wenn ich erst während der Invasion in Spanien war. Die Atmosphäre ist sofort sehr schwer geworden, alle haben ein bisschen Furcht oder Sorge. Immerhin sind wir Nachbarn von Russland und Belarus, richtig? Man fühlt sich dem Ganzen einfach näher.“ Trotz seiner starken lettischen Identität versucht Martis weiterhin, beide Seiten im Krieg gegen die Ukraine zu beachten. „Ich versuche, sowohl den Westen als auch die Unterstützer Russlands zu verstehen. Das ist eine sehr ungewöhnliche Perspektive hier in Lettland, aber ich will keine Seite wählen.“. 

Hartes Leben

Henrijs, ein Psychologie-Student, sieht vieles ähnlich wie Martis. Er will klinischer Psychologe werden und arbeitet nebenher in einem Freizeitpark außerhalb von Riga. Seine Familie kommt nicht aus Riga, aber auch nicht nur aus Lettland: „Ich bin Lette, meine Mutter ist Lettin, aber mein Großvater ist Ukrainer.“

Auch er hat starke Gefühle für Lettland. „Ich liebe mein Land. Ich würde mich selbst auch als Patrioten bezeichnen. Der November ist immer sehr besonders für mich – naja, für ganz Lettland. Wir gedenken im November verschiedenen nationalen Jubiläen, wie dem 11. und dem 18. November.“ Kurz nach dem Ersten Weltkrieg siegten lettische Freiwillige am 11. November 1919 über russische Freiwillige im Kampf um die Unabhängigkeit. Ein Jahr zuvor, am 18. November 1918, hatte Lettland seine Unabhängigkeit erklärt.

Vielleicht kommt seine Sichtweise auch daher, dass Henrijs nicht in Riga aufwuchs, sondern in einer Kleinstadt außerhalb. „Riga eröffnete für mich ganz neue Perspektiven. Die Menschen an der Universität sind anders, haben unterschiedliche Hintergründe. Meine Klassenkameraden kommen aus ganz Lettland, haben alle verschiedene Ansichten.“ Aber auch ihn bewegt die Frage, wie Lettland wachsen könnte. „Wir müssen uns in Europa integrieren, damit junge Menschen bleiben und nicht wegziehen. Polen und Tschechien haben das zum Beispiel sehr gut gemacht.“ Europa bedeutet für Henrijs viel – die EU bringt in Lettland echte, sichtbare Veränderung. „Meine Mutter lebt in dieser kleinen, ex-sowjetischen Stadt, 340 Einwohner, und jahrelang hat sich dort nichts verändert. Und plötzlich werden mit europäischem Geld  neue Straßen gebaut. Die Menschen haben bemerkt, dass sich plötzlich etwas tut. Wir bauen in Riga eine  neue Eisenbahn, all das ist  nur mit Europa möglich.“

Auch für Henrijs änderte sich am 24. Februar 2022 alles. „Das Leben war danach nicht mehr dasselbe. Wir haben alle gedacht, Russland posiert nur, die werden niemals angreifen. Und plötzlich ist da ein Krieg wenige hundert Kilometer von mir entfernt. Aber wir halten zur Ukraine, weil wir wissen, wie es ist, besetzt zu sein. Wir verstehen das besser als viele andere Länder in Europa. Ich habe auch darüber nachgedacht, in die Armee einzutreten – aber jetzt bin ich erstmal Student. Ich bin kein Soldat.“

Auch Henrijs verliert kaum Worte zu der Frage der ethnisch russischen Lett*innen. Anastasija hat eine Antwort darauf, wie die lettische Gesellschaft ihre „Bubbles“ verlassen könnte. „Wir sollten in gemeinsame Schulen gehen, Menschen mit lettischem und russischem Hintergrund. In kleine Schulklassen, sodass alle gezwungen sind, miteinander zu reden. Damit wir nicht wieder die Chance bekommen, uns zu entzweien.“ 

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Foto: Luzie Fuhrmann