Denkmale gibt es in Lettland viele. Nun sollen diejenigen von ihnen, die an die sowjetische Besatzungszeit erinnern, abgerissen werden. Denn manche Menschen in Lettland fühlen sich durch sie an die düstere Zeit der Okkupation zurückerinnert. Der Krieg in der Ukraine ruft solche Erinnerungen wach und hat das lettische Parlament zu einer radikalen Entscheidung bewogen: Diese Monumente sollen nicht mehr sein.

Eine lange Allee führt zu einem Platz, der sich am Rand des sorgsam angelegten ‘Uzvara Parks’, zu Deutsch: Siegespark” befindet. Es ist ein warmer Hochsommertag und jegliche Sorgen scheinen an diesem Ort – zumindest für diesen Moment – vergessen. Im Gegensatz zu dieser scheinbaren Sorglosigkeit steht, was sich in der Nähe von hier letztes Jahr ereignete: Russland startete einen Angriffskrieg auf die Ukraine. Dieser ruft bei manchen Menschen aus Lettland Erinnerungen an die eigene sowjetische Besatzungszeit wach. Denn als Lettland 1939 in dem geheimen Zusatzprotokoll des Hitler-Stalin-Paktes zur Einflusssphäre der Sowjetunion ernannt wurde, war das für viele Bewohner*innen des Landes eine grausame Erfahrung. Etwa 35.000 wurden 1940/42 nach Sibirien deportiert, circa ein Drittel von ihnen war jüdisch. Erst 1991 wurde Lettland unabhängig.

Um nicht länger an diese düstere Besatzungszeit erinnert zu werden, beschloss ein Großteil des lettischen Parlaments im November 2022, alle Monumente abzureißen, die die Erinnerung an die Besatzung Lettlands durch ein gewaltvolles Regime wachhalten. Obwohl  der Ukrainekrieg endgültiger Auslöser für den Abriss der Denkmale war, ist die Debatte darüber bereits seit Jahrzehnten polarisiert. Ein Großteil der Bevölkerung sei laut dem Nachrichtenportal Schweizer Radio und Fernsehen” für deren Abriss, da man sich durch den russischen Nachbarn bedroht fühle – einem Land, das versucht, mit Gewalt ehemals von der Sowjetunion besetzte Gebiete zurückzuerobern.

Ob so die Zukunft der Denkmallandschaft Rigas aussieht? Eine nämlich, in der tanzende Figuren an leichte Stunden erinnern. Überschattet werden damit die düsteren Stunden, die die Geschichte Lettlands ebenfalls prägten. Diese sollen zwar Bestandteil des Schulunterrichts sein, doch ständig an diese Zeit erinnert zu werden, wollen viele nicht.

Doch nicht für alle Menschen in Lettland sind die Monumente ein Symbol sowjetischer Unterdrückung. Für manche stehen sie sinnbildlich für den Sieg über das nationalsozialistische Deutschland. Lettland hat eine große russischsprachige und russische Minderheit, die das Geschichtsbild Russlands verinnerlicht hat. Dieses feiert den Sieg der Roten Armee über Nazi-Deutschland am 9. Mai. Viele von ihnen versammelten sich jährlich, um an den Monumenten Blumen niederzulegen.

Mein Urgroßvater starb in den ersten Kriegstagen. Wir kamen jeden 9. Mai hierher und legten Blumen nieder, um uns zu erinnern. Und es war immer wie ein Gedenktag. Weil diese alten Leute hierher kamen, die dafür gekämpft haben, dass wir alle diese Zukunft haben, diese Gegenwart, die wir haben.”. – Position einer jungen Lettin, der wir vor dem Denkmal begegnen.

Ein Platz als Zeugnis der Debatte

Um ein besseres Verständnis bezüglich dieser Frage zu entwickeln, haben wir uns zu einem Monument aufgemacht, das heute nicht mehr steht. Es ist das Denkmal für die Befreier von Sowjet-Lettland und Riga von den deutsch-faschistischen Eindringlingen”, inoffiziell auch Siegesdenkmal”. Dieses wurde 1985 zum Gedenken an die Soldaten der Roten Armee, errichtet, die Lettland nach Ende des Zweiten Weltkriegs zurückerobert hatten. Wir stoßen auf eine junge Frau, mit der wir über den Abriss der Denkmale ins Gespräch kommen. Ihre Position in der Debatte ist eindeutig.

Hier stand einst das ‚Denkmal für die Befreier von Sowjet-Lettland und Riga von den deutsch-faschistischen Eindringlingen‘

Ich bin sehr erleichtert, denn ich fühlte mich ständig daran erinnert, was in Lettland und vielen anderen baltischen Staaten – und nicht nur in den baltischen Staaten – geschehen ist.” Als wir sie darauf ansprechen, dass sich nicht alle Menschen in Lettland für den Abriss aussprechen, erwidert sie: Ja, es ist sehr schmerzhaft. Aber es gibt solche Leute in Lettland, die denken, dass nicht Lettland ihr Zuhause ist, aber die Sowjetunion und diese Leute sind traurig, dass diese Zeit in den 90ern ihr Ende gefunden hat. Aber progressive und junge Leute würde ich sagen, dass wir uns entwickeln müssen, das Lettische entwickeln und nicht an der Vergangenheit festhalten. Das geht nicht. Das war nicht unser Land.”

Seid ihr aus Russland?”

Eine Frau mit großer Sonnenbrille kommt uns in raschem Gang entgegen. Sie ist hip angezogen. Als wir sie ansprechen, hält sie inne, nimmt ihre dunkle Brille ab und betrachtet uns mit ernstem Blick. Wir fragen sie, ob wir ihr ein paar Fragen stellen dürfen. Sie bejaht. Als wir sie bitten, das Gespräch aufzeichnen zu dürfen, antwortet sie: Seid ihr aus Russland?”. Sie lacht laut, erwidert dann freundlich: Nein, lieber nicht” und fügt entschuldigend an: Ich bin in der Sowjetunion aufgewachsen.” Sie ist dafür, dass die Monumente abgerissen werden. Sie erinnern sie an sowjetische Zeiten, das mag sie nicht.

Die Freiheitsstatue im Rigaer Stadtzentrum. Sie darf an ihrem Platz bleiben

Einige positionieren sich hingegen klar gegen den Abriss der Monumente. In ihrer Erinnerung ist und bleibt die Rote Armee diejenige, die das Baltikum befreite. So auch eine junge Frau, die mit ihrem Kind auf dem Weg zu einem Turnier am Siegespark vorbeizieht: 

Es ist unsere Geschichte, unser Erbe. Es spielt keine Rolle, ob es schlecht oder gut ist. Man sollte es nicht einfach wegwerfen (…). Es hat mir das Herz gebrochen, denn es ist, als wäre die Geschichte einfach weggewischt, ausgelöscht worden. Und sie stand für Menschen, die für dieses Land gekämpft haben. Und das waren nicht nur russische oder sowjetische Staatsbürger. Sie waren auch lettische Bürger.” 

Russland zeigt sich über den Abriss der Denkmale, die an die Sowjetzeit erinnern, verärgert. Lettland hatte sich nach der Unabhängigkeit eigentlich dazu verpflichtet, die sowjetischen Denkmale zu erhalten. Seit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine fühlen sich die Lett*innen daran nicht mehr gebunden.

Was bleibt, wenn die Denkmale nicht mehr sind?

Zurück bleibt eine stark emotionale Debatte, die Unverständnis schürt. Ansätze für ein besseres Verständnis der gegnerischen Seite gibt es. So wie es uns eine junge Studentin erzählt, die gemeinsam mit anderen Studierenden nach Polen gefahren ist, um Menschen zu befragen und zu verstehen, was sie an der Sowjetzeit festhalten lässt. Wir sind zum Schluss gekommen, dass manche Leute einfach die Zeit vermissen, in der sie jung waren. Manche haben gesagt, dass sich die Leute damals mehr gegenseitig unterstützten, während die heutige Tendenz ist, für sich selbst zu kämpfen. Und ich denke, dass sich die Leute einfach sicherer gefühlt haben.”

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Fotos: Rahel Bueb