Die Deutsch-Baltische Gesellschaft e.V. ist seit 70 Jahren eine Brücke zum Baltikum. Die über 800-jährige deutschbaltische Geschichte, mit der sie sich befasst, ist turbulent, aber für die Est*innen, Lett*innen und Deutschbalt*innen identitätsstiftend. Die UnAuf hat mit dem Bundesvorsitzenden Andreas Hansen über deutschbaltische Identitäten gesprochen. 

UnAuf: Was ist die Deutsch-Baltische Gesellschaft? 

Andreas Hansen: Es ist eine Dachorganisation von acht körperschaftlichen Mitgliedern und sechs Landesverbänden. Sie hatte bei ihrer Gründung 1950 den Sinn, die versprengten Deutschbalten zusammenzuführen und gleichzeitig soziale Belange, auch die Unterstützung der Einzelnen, die in Not geraten waren, zu gewährleisten und Kontakte zu pflegen.

UnAuf: Hat sich das Ziel der Gesellschaft seit der Gründung geändert? 

Andreas Hansen: In der Satzung steht, dass der Zweck des Vereins die Wahrnehmung der kulturellen und sozialen Interessen der Deutsch-Baltischen Gesellschaft und ihrer Mitglieder und die Förderung des europäischen Gedankens durch die Pflege der Beziehungen zu den baltischen Staaten und ihrer Bevölkerung ist. Dazu kommen noch Vereine, die sich zugeordnet haben. Das geht von Baudenkmälern und der Genealogischen Gesellschaft über eine Kulturgesellschaft hin zum Deutschbaltischen Jugend- und Studentenring und dem Kirchlichen Dienst. Es gibt die Ritterschaften und eine ganze Reihe von Vereinen in Lettland und in Estland, die nicht unbedingt deutschbaltische, sondern deutsche Belange vertreten, aber auch assoziierte Mitglieder sind.

UnAuf: Die Mehrheit der Deutschbalt*innen ist nach 1939 vom Baltikum nach Deutschland gezogen, nachdem Hitler zur Umsiedlung deutscher Volksgruppen ins Deutsche Reich gerufen hatte. Diese baltische Erfahrung ist bestimmt ein wichtiger Bestandteil der heutigen deutsch-baltischen Identität, doch die Generation, die sich daran erinnert, stirbt langsam aus. Versteht sich die aktuelle junge Generation noch als deutschbaltisch? 

Andreas Hansen: Bei denen, die in den 1940er-Jahren geboren sind, ist dieses Gefühl noch sehr stark, weil sie viel Kontakt mit älteren Deutschbalten hatten. Das geht hin bis zu bestimmten Sitten und sprachlichen Sonderbarkeiten wie dem Akzent. Es gibt auch einige Traditionen, die viel mit Essen zu tun haben. Eigentlich ist es nichts fürchterlich Originelles, es ist eine Mischung aus deutscher und russischer Küche. Seltsamerweise haben das die Esten und Letten auch stark übernommen. Das andere sind zum Beispiel Tänze, die eigentlich von den Russen stammen, welche sie aber wiederum aus Frankreich übernommen haben. 

UnAuf: Beteiligen sich auch junge Menschen bei der Deutsch-Baltischen Gesellschaft? 

Andreas Hansen: Ja, aber aus anderen Motiven, vermute ich. Sie interessieren sich dafür, wie das heutige Estland, Lettland und Litauen aussehen. Dass ihre Vorfahren dort herkommen, ist, glaube ich, sekundär. Aber diejenigen im Alter von 50-60 bekommen auf einmal ein Interesse an ihren Vorfahren und dann fahren sie ins Baltikum. Es gibt dort noch sehr viel, was die Sowjetunion überstanden hat. 

UnAuf: Was hat die Wiederherstellung der Unabhängigkeit der baltischen Staaten 1991 für die Deutschbalt*innen und die Deutsch-Baltische Gesellschaft bedeutet? 

Andreas Hansen: Es gab viele Reisen ins Baltikum, schon zu Sowjetzeiten,aber damals durfte man nur bestimmte Städte besichtigen. Erzählt werden Geschichten, wie Leute versucht haben, sich doch noch einen Einblick zu verschaffen, oder auch, was sie ins Land reingeschmuggelt haben. So ein bisschen wie in der DDR. Nachdem die Esten und Letten wirklich souverän geworden waren, gab es große Initiativen, um Kontakte aufzunehmen. Dazu kommt aber auch, dass noch viele Leute im Baltikum Deutsch gesprochen haben. 

UnAuf: Sind die Deutschbalt*innen wieder zurück ins Baltikum gezogen? 

Andreas Hansen: Ganz wenige. Das sind vor allem Leute aus dem Adel, sie haben manchmal ihre teils ramponierten Gebäude wieder aufgebaut und betreiben Gastronomie oder Ähnliches. Aber so was gibt es nicht häufig. Da würde ich eher sagen, dass es Deutsche allgemein sind, die ins Baltikum gehen und dort wirtschaftliche Existenzen aufbauen. Das war aber auch schon so im 19. Jahrhundert. Viele Leute aus dem Deutschen Reich sind dorthin gekommen, aber nicht russisch geworden, sondern Deutsche geblieben. 

UnAuf: Welche Rolle spielen die Deutschbalt*innen heute im deutschen kollektiven Bewusstsein? 

Andreas Hansen: Vor 1991 haben viele Leute zu meinem Vater gesagt: “Sie haben so einen komischen Akzent”. Damals wurde gern Estland mit Island verwechselt, Balkan und Baltikum und ähnliche Missverständnisse. Das ist jetzt aber nicht mehr so. Inzwischen glaube ich, dass die meisten Bescheid wissen, wo die drei Staaten liegen. Es hat mittlerweile auch sehr viel Tourismus stattgefunden und Deutsche sind ins Baltikum gereist. Für den Tourismus ist das Baltikum sehr attraktiv, gerade weil es da so viel ursprüngliche Landschaft gibt.

UnAuf: Welche Rolle spielen die Deutschbalt*innen, beziehungsweise die Deutsch-Baltische Gesellschaft für die kulturelle und politische Zusammenarbeit zwischen Deutschland und den baltischen Staaten? 

Andreas Hansen: Es ist die Frage, ob es überhaupt eine Zusammenarbeit gibt. Ich bezweifle das. Es gibt ein ostpreußisches Landesmuseum in Lüneburg mit deutschbaltischer Abteilung und die haben natürlich einen Austausch mit Museen im Baltikum. Es gibt eine Baltische Historische Kommission in Göttingen und die hat auch etliche Mitglieder aus dem Baltikum, einige hiesige Osteuropa-Historiker sind auch ins Baltikum als Lehrkräfte gegangen. Das ist aber kein staatlich geregelter Zustand, sondern es hat sich so ergeben und wurde nicht weiter gefördert. Aktuell gibt es noch eine Gruppe, die mal Deutschbaltische Studienstiftung hieß. Sie hat ihren Namen zum Deutsch-Baltischen Jugendwerk geändert, in der Hoffnung, dass es mal gefördert wird, aber das hat sich nicht so ganz erfüllt. Jetzt nennen sie sich Zukunftsstiftung. Sie machen einmal im Jahr Kongresse, die mit öffentlichen Mitteln gefördert werden, aber bescheiden. 

UnAuf: Hat sich nach dem Kriegsausbruch in der Ukraine etwas an der Tätigkeit der Deutsch-Baltischen Gesellschaft geändert? 

Andreas Hansen: Eigentlich nicht besonders. Institutionen, die Flüchtlinge aufgenommen haben, werden gefördert, aber darüber hinaus hat sich nicht viel geändert. Der deutsche Staat ist aber wiederum da sehr aktiv, in Litauen und in Estland sind Soldaten stationiert. Einige Deutschbalten haben sich in der Ukraine engagiert, aber vor allem Leute aus den Nachkriegsjahrgängen. Die Jüngeren nicht, soweit ich weiß. Der Deutschbaltische Jugend- und Studentenring zielt zum Beispiel auf Völkerverständigung, das heißt, es wird aktuell auch versucht, mit Leuten aus Russland Kontakt zu halten. 

UnAuf: Was sind die Zukunftsaussichten für die Deutschbalt*innen und die Deutsch-Baltische Gesellschaft? 

Andreas Hansen: Ja, das ist eine schwierige Frage. Jetzt können wir eigentlich nur Angebote machen: Orte, an denen man sich treffen kann, Zeitschriften, Bibliotheken, Archive. Was sich daraus entwickelt, ist schwer zu sagen. Die Satzung der Gesellschaft sagt ja eben, dass man die kulturellen und sozialen Interessen im Auge behalten soll. Manches, was gemacht wird, geht aber am Thema vorbei. Es ist bestimmt gut gemeint, aber hat gar nichts mehr mit dem Baltikum oder der Geschichte zu tun. In Berlin gibt es gerade eine Menge sogenannter Zukunftsprojekte, aber was daraus wird…? Was sich leider auflösen wird, sind wahrscheinlich die Landesverbände, weil sie offensichtlich Schwierigkeiten haben, sich zu motivieren. Die Veränderungen werden weitergehen und es wird wohl in den nächsten fünf Jahren einen Umbruch in der Deutsch-Baltischen Gesellschaft geben.

Das Gespräch führte Aleksandra Piotrowska


Foto: Andreas Hansen