Sandra Hüller ist der aktuelle Shooting-Star der Film-Welt. In Anatomie eines Falls brilliert sie als vielseitige Figur: Autorin, Mutter, Ehefrau, Mörderin? Über die Abgründe zwischenmenschlicher Beziehungen und einen Film, der seiner Kritik gerecht wird.

Von der Großstadt in die Natur. In die Berge. So richtig abgelegen: die Sehnsucht von Einigen, der Albtraum von Anderen. Daniel lebt mit seinen Eltern in Frankreich in den Bergen, es geht kaum höher und abgelegener. Das Haus der Familie liegt idyllisch im Schnee. Dort geht Daniel oft mit seinem Hund spazieren. Ohne den könnte er jedoch nicht die Umgebung erkunden, denn er ist sehbehindert, seit einem Unfall, der einige Jahre zurück liegt.

Anatomie eines Falls heißt der neue Film der französischen Regisseurin Justine Triet, der nicht nur in Cannes die Goldene Palme gewann, sondern auch vom (internationalen) Feuilleton durchweg positiv besprochen wurde. Der Film spielt vorwiegend in diesem Haus, ansonsten im Gerichtssaal. Sandra, Daniels Mutter – grandios gespielt von Sandra Hüller – fühlt sich weniger wohl in den Bergen. Ihr fehlt die Abwechslung und das Leben in London. Als erfolgreiche Autorin genießt sie trotzdem Ruhm und Anerkennung, auch die einer jungen Doktorandin, die sie über ihr neues Buch interviewt.

Und das stellt die Anfangsszene dar. Sandra und die Doktorandin sitzen im Wohnzimmer des Hauses in den Bergen und reden über Sandras neues Buch. Zwischen den beiden knistert es sichtlich. Sandra genießt es, mit der jungen Frau zu flirten. Wenn da nicht die nervenaufreibend laute Musik von Samuel, ihrem Ehemann, wäre, die durch das Haus donnert. Ein in Dauerschleife laufender Track: Eine Version von P.I.M.P. des Rappers 50 Cent. Ein zutiefst misogyner Song.

War es Suizid? Oder war die Ehefrau involviert?

Was in den nächsten Minuten des Films passiert, geht schnell und wird doch immer wieder aufgerollt. Das Interview bricht ab, denn die Musik stört. Daniel ist mit seinem Hund spazieren. Als er zurückkehrt, liegt sein Vater tot im Schnee. Eine Platzwunde am Kopf. Anatomie eines Falls rollt ab diesem Moment einen Prozess auf, der nach dem plötzlichen Todesfall von Samuel beginnt. War es Suizid? Oder war womöglich Sandra, seine Ehefrau, involviert? Schnell rückt sie in den Fokus als potenzielle Mörderin, als Angeklagte. Oder fälschlicherweise Angeklagte?

Diese Anklage, die dauerhaft bedrohlich über dem Film liegt und wie eine dunkle Vorahnung auf dem Geschehen lastet, wirft Fragen über Ehen auf, über zwischenmenschliche Beziehungen und die Abgründe, die sich zwischen zwei Menschen auftun können. Ein Jahr lang begleiten die Zuschauer*innen den Prozess, in dem Sandra verhört wird und auch Daniel, der gemeinsame Sohn, aussagen muss. Eine sich zuspitzende Entwicklung.

Die Zuschauer*innen werden mitgenommen in den Gerichtssaal, in das Haus der Familie und vor allem in die Psyche der Menschen. Daniel, der weiterhin mit seiner Mutter unter einem Dach lebt, wird hier zunehmend zwischen die Fronten gezogen. Bis zum Ende ist die Spannung kaum auszuhalten. Und doch ist der Film kein klassischer Krimi, sondern ein kunstvolles Drama, das Fragen über das Milieu, die Arbeit und die Geschlechterrollen der Figuren stellt. Sandra und Samuel sind beide Autor*innen. Während sie erfolgreich ist, leidet er darunter, dass er nicht schreiben kann. Dazu fehlt ihm die Zeit, denn er übernimmt die Erziehung des Sohnes. Das wirft er ihr in einem eskalierenden Streit vor.

Anatomie eines Falls betrachtet intim und dramatisch zugleich, wie ein Bruch zwischen zwei Menschen entsteht

Gleichermaßen geht es um Sandras sexuelle Orientierung und ihre (unglückliche) Ehe. Auch die Depression Samuels wird relevant. Beide Figuren sind ambivalent zu betrachten. Besonders Sandra, auf der der Fokus der Erzählung lastet. Ihre Abgeklärtheit und Ruhe ist gleichermaßen faszinierend wie abstoßend.

Anatomie eines Falls betrachtet intim und dramatisch zugleich, wie ein Bruch zwischen zwei Menschen entsteht. Und wie vielschichtig zwischenmenschliche Beziehungen sind. Dass dabei ein Prozess um einen möglichen Mord entsteht, macht aus einem Arthouse-Drama einen nervenaufreibenden Krimi.

Das interessante Spiel zwischen den Genres Drama und Krimi und die vielschichtige Erzählung der Beziehungen, lässt einen bis zuletzt gefesselt. Ist hier aber vor allem der Prozess relevant, oder die Perspektive darauf? Oder gar das Porträt der Menschen, das gezeichnet wird? Oder handelt es sich am Ende vor allem um eine Reflektion über Kunst? Der Film stellt viele Fragen und beantwortet sie, wenn auch nur vage. Und überlässt die Interpretation den Zuschauer*innen. Auch der Ausgang ist, ohne zu viel vorwegzunehmen, aufwühlend. Ein packender Film über die kunstvolle Suche nach der Wahrheit – wenn es die denn überhaupt gibt.


Foto: Justine Triet @Plaion Pictures