New York: Die Stadt, die niemals schläft. Sie ist exzessiv, brutal ehrlich und kunterbunt. Und doch gibt es Momente, in denen nicht nur die Megacity stillsteht, sondern auch die ganze Welt. 9/11 war solch ein Augenblick. Holger Biermann war hautnah dabei und hörte nicht mehr auf zu fotografieren.

Eine junge Frau, nicht älter als 25 Jahre, mit einem strahlenden Lächeln im Gesicht. Die Fotografie wirkt flüchtig, ist aber von elektrisierender Intensität.  Die Augen strahlen direkt in die Linse. Diese Leichtigkeit bei gleichzeitiger Vehemenz erinnert an Lee Friedlander, der in seinen  Straßenfotografien New Yorks ekstatische Offenheit wie kein anderer dokumentiert. Und genau diese authentischen Reaktionen machen Straßenfotografie aus, wenn der „entscheidende Moment“ aus einem Foto Storytelling macht. Diese Authentizität hat eine dunkle Seite – Anonymität, Fremde und Gefahr. Holger Biermanns Talent ist es jedoch, dieses Konfliktpotential mit kleinen Lichtblicken zu erhellen, die von einer nicht enden wollenden Geschichte unserer Realität erzählen.

Lächelnde junge Frau, 2002 | © Holger Biermann

Der Tag, an dem die Welt stillstand

Es muss ein warmer Frühsommertag gewesen sein, als Holger Biermann das enthusiastische Mädchen 2002 fotografierte. Jedoch trügt der Schein des Bildes, dieser New Yorker Sommer war anders, Schwermut lag in der Luft. Noch immer stand die ganze Stadt unter Schock. Der Anschlag am 11. September auf das World Trade Center prägte nach wie vor das Denken und Fühlen der New Yorker*innen. Das Straßenbild im Süden Manhattans war ein anderes geworden. Und warum sollte in der Begegnung zweier junger Menschen dieser Weltschmerz nicht zumindest für einen Moment lang angehalten werden?

9/11 Passanten an der Brooklyn Bridge, 2001 | © Holger Biermann

Biermann war nur drei Blocks entfernt, als die zwei Flugzeuge in die einst höchsten Gebäude der Welt rasten. Während er zwischen kreischende Menschenmengen und gigantischen Staubwolken mit Hunderten den Stadtteil Richtung Brooklyn Bridge verließ, kaufte er geistesgegenwärtig fünf Diafilme. Dabei nahm er Szenen auf, die mehr als nur Storytelling sind. Sie stellen dar, wie fragil Gewohnheit ist, wie sich in einem Moment eine ganze Stadt, ja die ganze Welt, verändern kann. Die Flüchtenden, denen das Entsetzen ins Gesicht geschrieben ist, die Feuerwehrleute, die an diesem Tag mehr als nur Alltagshelden sind und die Schuttwelle, die den Süden von Manhattan wie eine absurde Winterlandschaft erscheinen lässt, all das hält Biermann mit genauem Blick und nüchterner Akribie fest. Jene Ereignisse machten den Berliner Textjournalisten, der mit einem Praktikumsplatz nach New York kam, zu einem Bildreporter. Holger Biermann blieb und verlängerte seinen geplanten Aufenthalt von ein auf zweieinhalb Jahre.

Sozialrealistische Authentizität

Dabei sucht er nicht nach bestimmten Motiven, es sind vielmehr flüchtige Begegnungen, die den Menschen unmittelbar im urbanen Leben New Yorks darstellen. Hierbei werden die fesselndste aller Metropolen und ihre Bewohner*innen zu dem Prisma einer Stadt, deren Gegensätze zwar weit auseinanderklaffen, das scheinbare Chaos jedoch zusammenfügen. Dabei geht es Biermann nicht um Schönheit, sondern um Wirklichkeit. Er zeigt Situationen so, wie sie sind, nicht so, wie sie idealisiert werden.

Diese Kontraste spiegeln einem deutlich die eigene Situation wider. Sie zeigen, wo man gerade steht, wo man sich selbst einordnen würde. Denn nirgendwo ist der Graben zwischen Ekstase und Verzweiflung so tief wie in New York. Ist es das zufällige Glück, das sich ein jeder wünscht, oder das stille Leiden im Abseits, mit dem sich identifiziert wird?

Little brown bag, 2003 | © Holger Biermann

Die von Biermann abgebildete Klarheit macht den Alltag verständlicher und bringt uns somit dem Menschen näher. Gegenwärtig nimmt er Szenen auf, bei denen eine Geste oder ein Blick nicht nur das Leben New Yorks spiegeln, sondern zugleich als Vergrößerungsglas für das menschliche Verhalten, der „conditio humana“, dienen. Und genau diese Schnittstelle zwischen Porträt, Dokumentarium und sozialer Beobachtung mag Grund dafür sein, dass Straßenfotografie auf Social Media gerade ein Revival erlebt. Allein bei Instagram sind unter dem Hashtag streetphotography mehr als 122 Millionen Beiträge zu finden. Zwischen inszenierter Perfektion und Überfluss sind es scheinbar diese Momentaufnahmen, die die Welt und eigene Emotionen in Wahrheit und Realität erstrahlen lassen.

Aus dem Bildband: Holger Biermann-Leaving Today. Erschienen im Uthlande Verlag.


Foto: Vor der Safra Bank Midtown, 2003 | © Holger Biermann