Für die Menschen an der Kunstakademie Lettlands, der Latvijas Mākslas akadēmija, hat sich seit dem Krieg einiges verändert, doch das Leben geht weiter. Im Zentrum der Hauptstadt, unweit des Parlaments, stellt diese Universität eine Welt für sich dar.

„Es ist wie Hogwarts”, sagt eine junge Kunststudentin im Hauptgebäude an der Kalpaka bulvāris 13 lächelnd. Das rote Backsteingebäude wurde von dem deutsch-baltischen Architekten Wilhelm Bockslaff entworfen, vor der Gründung der Akademie waren hier deutsche Sprachschulen angesiedelt. Die Kunstakademie existiert bereits seit 1919. Sowohl während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg, als auch während der sowjetischen Okkupation, wurde der Universitätsbetrieb weitergeführt. 

Der heutige Vizerektor Andris Vitolins, selbst bildender Künstler, ist 48 Jahre alt und so etwas wie die Seele der Universität. Er kam 1996 im Alter von 21 Jahren an die Akademie – zuerst als Student, später als Mitarbeiter. In seinem Büro, in dem er sich hauptsächlich aufhält, zeigt er auf einen Stuhl mit geschnitzten Verzierungen: „Viele Dinge hier haben eine interessante Geschichte. Dieses Möbelstück zum Beispiel hat die regierungstreue Universitätsleitung während der Sowjetzeit weggeworfen, weil es ihr zu bourgeois war”. Heute befindet es sich wieder an seinem alten Platz. Vitolins führt uns weiter durch einen Gang, in dem sich die Büste eines ehemaligen Professors befindet, im Stil des sozialistischen Realismus. „Die ist aus Sowjetzeiten. Man hat unendlich viele Statuen in diesem Stil produziert, in jedem Dorf kann man so etwas finden.“, erklärt er.

Vizerektor Andris Vitolins vor dem alten, aber noch immer funktionierenden Uhrwerk des Gebäudes

Nicht nur Andris Vitolins ist tief verwurzelt an der Kunstakademie Lettlands, auch die Studierenden fühlen sich verbundener mit ihr, als das wohl viele andere Studierende mit ihren Universitäten tun.

Eine von ihnen ist Alise Builevica. Ursprünglich in einem kleinen Ort Lettlands aufgewachsen, studiert sie heute im Masterstudiengang Malerei in Riga. Auf der sonnigen Dachterrasse eines unter Studierenden sehr beliebten Cafés überlegt Alise, wie es dazu kam, dass sie Künstlerin wurde. Sie erzählt, wie sie bereits als kleines Kind unheimlich gerne Malstifte in Händen hielt und wie sie ihre ehrgeizige Mutter in zwei Schulen gleichzeitig steckte: Tagsüber in die ‚normale‘ Schule, abends in eine Kunstschule für Kinder, und wie sie schließlich an der Kunstakademie ihren Stil neu entdeckte. 

Alise erinnert sich, dass sie lange Zeit sehr traditionell malte, da sie sich nicht traute, ihre Gedanken und Gefühle in ihrer Kunst zum Ausdruck zu bringen. An der Akademie fiel diese Angst von ihr ab: „Wenn du hier ankommst, fragen dich die Professoren ganz direkt: ‚Okay, was ist dein Ding?’.” Heute spielt Alise in ihrer Kunst mit der Frage, was real ist. Sie wird inspiriert durch den magischen Realismus, die Verschmelzung der alltäglichen Wirklichkeit mit einer magischen Realität. Diese Strömung spielt häufig mit Träumen oder Halluzinationen, wie sie erklärt.

Wenn sich Prioritäten auf einmal verschieben

Auf den Angriffskrieg auf die Ukraine angesprochen, erzählt Alise, dass sie sich zum Zeitpunkt der Invasion mit ihrer Bachelorarbeit beschäftigte. Wie viele Lett*innen beschreibt sie den Moment, als sie vom Angriff Russlands erfuhr, als einschneidendes Erlebnis. „Auf einmal erschien alles Andere nebensächlich.” Es kam ihr absurd vor, sich über Dinge wie die Bachelorarbeit, ihre Bilder oder die Universität den Kopf zu zerbrechen: „Plötzlich verschieben sich deine Prioritäten. Natürlich war das beängstigend”. 

Alise im Innenhof der Kunstakademie

Unweit der Kunstakademie befindet sich die russische Botschaft. Wohl auch deshalb war es für Alise und einige ihrer Kommilitonen*innen naheliegend, an den dortigen Protestaktionen teilzunehmen. Gelähmt durch das Geschehene war es ihnen ohnehin nicht möglich, sich auf den Alltag einzulassen. „Einmal trafen wir uns frühmorgens vor der russischen Botschaft und haben mehrere Stunden geschrien – wie vor Schmerzen”, erinnert sie sich.

Obwohl der anfängliche Schock sehr groß war, erzählt Alise, dass zwangsläufig wieder eine Art Alltag eintrat. „Irgendwann schaffst du es, aus diesem Kreis auszubrechen, in dem du den ganzen Tag nur Nachrichten konsumierst. Trotzdem war es hart, irgendetwas anderes zu tun, gerade zu Anfang.” Die Lage in Lettland habe sich mittlerweile zwar etwas beruhigt, doch spüre man noch immer die Auswirkungen des Krieges, auch die ökonomischen. „Aber so ist es nun einmal gerade“, sagt sie resigniert.

Geschichten aus früheren Zeiten

Alise ist zwar in einem unabhängigen Land aufgewachsen, doch kennt sie die Geschichten ihrer Großelterngeneration nur zu gut. Die Angst vor einer Invasion scheint tief in ihr verwurzelt: „Auf eine gewisse Weise habe ich das Gefühl, dass ich da schon einmal durchgegangen bin”. Aber natürlich stehe sie weiterhin in Kontakt mit ihren russischsprachigen Freund*innen. Warum auch nicht, meint sie achselzuckend. „Es sind ja auch nur Menschen.” Von einer unangenehmen Spannung seit dem Krieg sei zwischen ihnen ebenfalls nichts zu spüren. Vielleicht habe sie aber auch einfach Glück, dass man sich in den relevanten Dingen einig sei.

Auch Vitolins bereitet die aktuelle politische Situation Sorgen. Er beschreibt die aus seiner Sicht andere Mentalität, die in der Sowjetunion geherrscht habe: „Ein einzelnes Leben hatte damals nicht viel Wert. Menschen wurden eher als Ressource, nicht als Individuen betrachtet.“ Diese Einstellung sei in Russland auch heute wieder zu finden, wie sich aktuell durch den Angriffskrieg zeige, in dem junge Menschen an der Front „verheizt“ würden. Von Riga aus sind es nur etwa zwei Stunden bis zur russischen Grenze. So habe zu Anfang der Invasion auch hier blanke Panik geherrscht. An der Universität habe man innegehalten und zunächst aufgehört, Kunst zu machen. 

Ein Spiegel im Aufenthaltsraum des Studiengangs Malerei gibt eine rote Leuchtschrift wieder, die alles ist falsch” auf Lettisch besagt – allerdings in kyrillischer Schrift

Nach und nach habe der Krieg die Kunstszene auf weiteren Wegen beeinflusst: Durch die Ankunft ukrainischer Geflüchteter und politischer Minderheiten, die aufgrund von Verfolgungen aus Russland nach Riga kamen. „Die neuen Ankömmlinge befinden sich allerdings in einer Art von Blase. Ihre Kunstszene bleibt eher unter sich“, stellt Vitolins fest.
Stark diskutiert wurde auch die Absage der Biennale Riboca (Internationale Biennale für Gegenwartskunst in Riga). Diese wurde von Agniya Mirgorodskaya, der Tochter des russischen Oligarchen Gennady Mirgorodsky, gegründet und deshalb als nicht mehr tragbar angesehen. Russland versuche, die lettische Gesellschaft zu spalten, sagt Vitolins: „Sie haben diese imperialistische Anspruchshaltung an unser Land.“ Die Schwere aktueller politischer Ereignisse zieht auch an der Kunstakademie nicht leichtfertig vorbei – doch sie wäre kein Ort voller kreativer Köpfe, wenn keine Umgangsformen damit gefunden werden könnten. 

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Fotos: Rahel Bueb