Kommunist sein in einem Land der ehemaligen Sowjetunion – das ist eine schwierige Angelegenheit. Viele hier wollen die Vergangenheit hinter sich lassen. Die UnAuf trifft einen jungen Mann, der sich unter seinem Pseudonym Arvid vorstellt. Er spricht über seine Sicht auf die aktuelle politische Situation.

UnAuf: Wie stehst du zu Russland heute, würdest du es in irgendeiner Weise mit der ehemaligen Sowjetunion gleichsetzen, wie es beispielsweise Wladimir Putin oft andeutet? 

Arvid: Wladimir Putin weiß, dass die sozialistischen Ideen sehr populär bei den Menschen sind, weil die Menschen Frieden wollen. Die Menschen wollen eine zugängliche Gesundheitsversorgung. Die Menschen wollen billige und zugängliche Lebensmittel. Deshalb verwendet er diese Symbolik, im Grunde genommen ist er aber wie die Politiker in Europa. Er ist Teil der gleichen kapitalistischen Klasse. 

UnAuf: Wie würdest du dahingehend den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine einordnen?

Arvid: Sie schaffen eine Kultur, die Gewalt rechtfertigt und verherrlicht. In diesem Krieg geht es darum, das Land auszurauben, es unter Kontrolle zu halten und die Menschen zu spalten. Deshalb unterstützen die Politiker die Fortsetzung des Krieges, sodass noch mehr Menschen sterben werden. Nur wird der Sieg nicht besser sein als die Niederlage. Egal, welcher Staat gewinnt oder verliert, wir sind immer noch im Kapitalismus und werden darunter leiden. 

UnAuf: Glaubst du, dass es das Risiko gibt, dass der Krieg sich ausbreitet?

Arvid: Ja, natürlich. Es gibt ein hohes Risiko. Wenn die Arbeiter, wenn alle wirklich demokratischen und sozialen Bewegungen nicht dagegen kämpfen, dann wird sich der Krieg immer weiter ausbreiten.

UnAuf: Was ist deine Meinung zur Debatte um den Abriss sowjetischer Denkmäler? Das lettische Parlament hat letztes Jahr beschlossen, die etwa 300 Denkmäler aus der Zeit, in der Lettland zur Sowjetunion gehörte, abreißen zu lassen.

Arvid: Jeder gute, fortschrittlich denkende Mensch sollte dagegen sein. Sie benutzen den Krieg, um den Abriss dieser Denkmäler zu rechtfertigen. Diese Statuen sind heldenhaften Menschen aus Lettland, Russland, Litauen und anderen Ländern gewidmet, die ihr Leben im Kampf gegen den Nazi-Faschismus gaben. Die Regierung sagt, sie symbolisieren all die schlechten Dinge, die die Sowjetunion getan hat. Im Grunde versuchen sie aber, das sowjetische Volk und den Sieg der Menschheit über den Nazifaschismus zu verleumden. 

UnAuf: Die Mehrheit in Lettland steht hinter der EU und der NATO, natürlich aus Sorge vor Russland. Wir haben den Eindruck gewonnen, dass viele Menschen hier historisch gesehen große Angst vor der Sowjetunion haben – verständlicherweise.

Arvid: Das ist eine sehr schwierige Frage, weil man im Grunde genommen mit sehr wenigen Leuten spricht und meistens mit Vertretern der Bourgeoisie oder des Kleinbürgertums, die mit der aktuellen Regierung einverstanden sind. Ich kann nicht wirklich offen gute Dinge über die Sowjetunion sagen. Hier ist es sehr repressiv, Dutzende von Fernsehkanälen, Websites und Medien wurden von den Behörden geschlossen, weil sie dafür keine gerichtliche Genehmigung brauchen. 

UnAuf: In Lettland lebt eine große russischsprachige Minderheit. Im April diesen Jahres wurde ein Gesetz verabschiedet, nach dem bis zum 01. September lettische Sprachtests auf A2-Niveau bestanden werden mussten. Andernfalls droht eine Abschiebung. Wie bewertest du dieses Gesetz?

Arvid: Die nationalistische Regierung, die in den 1990er Jahren an die Macht kam, hat 800.000 Menschen, die nach dem Zweiten Weltkrieg hierher gekommen sind, die Staatsbürgerschaft entzogen und sie zu Nicht-Bürgern gemacht. Das ist ein Drittel der lettischen Bevölkerung. Und das nur, weil diese Menschen in einem anderen Land geboren wurden. Durch das neue Gesetz könnten nun mindestens 25.000 Menschen abgeschoben werden. Viele von ihnen sind sehr alt, bereits über 65 Jahre oder sie nähern sich diesem Alter. Sie sind Rentner, haben hier gearbeitet, Steuern gezahlt und sich ihre Ruhe verdient. Viele haben es sehr schwer, die Sprachprüfung zu bestehen. Einige von diesen Leuten hatten Schlaganfälle, Herzinfarkte, und können kaum die Sprache sprechen, geschweige denn einen Test machen. Es gibt Videos von Menschen, die mit Rollstühlen und Sauerstoffflaschen ankommen. Auch gibt es unglaublich viel Bürokratie. Man kann es nicht einfach digital machen, sondern muss persönlich vor Ort sein. Wenn man Probleme beim Gehen hat, ist es sehr schwierig, weil viele dieser Orte nicht mit dem Rollstuhl zugänglich sind. Die Regeln verstoßen eigentlich gegen das europäische Gesetz, weil diese Menschen hier legal leben. Und man kann diese Daueraufenthaltsgenehmigung nicht einfach ohne Grund aufheben, nur weil sie außerhalb Lettlands geboren wurden. Die Regierung will diese nationalistische Hysterie aufrechterhalten. Sie sagen, dass die Russen an allem schuld sind und alles Russische schlecht ist. Und dann sagt man, dass diese Menschen gefährlich und illoyal sind, weil viele die russische Staatsbürgerschaft annehmen, dabei hat man diese Diskriminierung ja selbst geschaffen. Das tun sie nur, weil sie dort frühere Renten bekommen können. Und damit sie sich nicht als Bürger zweiter Klasse fühlen. 

UnAuf: Ein Argument für diese Sprachtests ist auch, dass die lettische Sprache geschützt werden soll. Wie siehst du das?

Arvid: Die Nationalisten sagen zwar, dass sie die lettische Sprache bewahren wollen. Aber wenn man sich die Ergebnisse anschaut, werden sie immer schlechter. Die Sache ist, dass selbst lettische Kinder die lettische Sprache nicht gut können. Zum Beispiel sind die Ergebnisse der lettischen Sprachprüfung bei Kindern in diesem Jahr sehr schlecht. Das durchschnittliche Ergebnis lag bei circa 53 %, die Mindestpunktzahl ist 40%. Das Ergebnis für Englisch dagegen liegt, glaube ich, bei circa 65%. Die Leute hier können also besser Englisch als ihre eigene Muttersprache. Billige Arbeiter im Ausland brauchen ihre eigene Sprache nicht, sie müssen nur Englisch können. 

UnAuf: Wie schätzt du das Verhältnis osteuropäischer Staaten zu Westeuropa ein?

Arvid: Länder wie Deutschland, Belgien oder Frankreich können auch deshalb so gut leben, weil sie die Länder in Osteuropa ausbeuten und die Menschen hier im Grunde bereit sind, umsonst zu arbeiten. Die westlichen Unternehmen nutzen das aus. Sie kaufen Land für wenig Geld. Sie kaufen all diese Fabriken, die während der Sowjetzeit gebaut wurden. Außerdem beuten sie Ressourcen aus. Sie bekommen Stahl, Erdgas und Öl. Sie nutzen es aus, dass die Leute so verängstigt sind, so unorganisiert sind. Deshalb sind osteuropäische Länder so arm, unterentwickelt und repressiv. Außerdem gibt es den sogenannten Braindrain, viele gebildete und qualifizierte Menschen wandern nach Westeuropa aus. Sie wurden unter dem sowjetischen System ausgebildet, weil es dort eine allgemeine und kostenlose Bildung für alle gab. Doch das Leben hier ist so schwierig, dass die Menschen gezwungen sind, auszuwandern, um zu überleben. Auch die Abwanderung in den Niedriglohnsektor ist sehr verbreitet, besonders jetzt. Fabrikarbeit, körperliche Arbeit, auch in der Landwirtschaft. Die Arbeitsrechte sind dabei nicht immer garantiert. 

UnAuf: Wie würdest du die aktuelle wirtschaftliche Situation in Lettland bewerten?

Arvid: Lebensmittel hier sind jetzt sehr teuer, aber die Löhne sehr niedrig. Ich meine, 700 Euro gelten schon als guter Lohn, die meisten Leute hier bekommen etwa 500 bis 600 Euro. Die Arbeiter im öffentlichen Nahverkehr, die Fabrikarbeiter, verdienen sehr wenig. Wir haben schlechte Krankenhäuser, schlechte Schulen, eine sehr schlechte Infrastruktur, kein Wirtschaftswachstum und keine Perspektiven. Und wenn man jetzt zum Beispiel Nationalisten sagen hört, dass das Leben hier seit 1991 so viel besser geworden ist, seit wir nicht mehr unter der Sowjetunion sind, dann muss man sich fragen, für wen? Die Arbeiter fühlen sich nicht besser. Lettland ist das fünftärmste Land der EU. 

Sind die Abwanderung und Armut deinem Eindruck nach im Alltag stark spürbar?

Arvid: Laut einer kürzlich durchgeführten Meinungsumfrage sagt mehr als die Hälfte der jungen Leute, dass die einzige wirkliche Karriereoption im Leben die Auswanderung ist. Und viele dieser Menschen, die nach einiger Zeit zurückkehren, gehen wieder, weil sie sagen, dass sich die Dinge nicht ändern. Im Moment haben wir eine negative Geburtenrate. Es sterben also mehr Menschen, als geboren werden, zusätzlich zu den Menschen, die wegziehen. Unsere Bevölkerung betrug 1991 etwa 2,7 Millionen Menschen und jetzt sind es etwa 1,8. Wir haben also in den letzten 30 Jahren fast eine Million Menschen verloren. Vor zehn Jahren konnte man hier in Riga noch viele Menschen sehen, die überall hingingen, zum Beispiel zum Einkaufen. Jetzt ist es sehr leer. 

Das Gespräch führte Pia Wieners.

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Illustration: Elīna Brasliņa