Aufgrund der sowjetischen Besetzung Lettlands im 20. Jahrhundert lebt eine große russische Minderheit im Land. Putins Angriffskrieg auf die Ukraine eröffnet auch hier eine Identitätsfrage. Die UnAuf hat mit einer Poetin gesprochen, die zur ethnisch russischen Minderheit im Land gehört. 

Das Café, in dem Anastasija ihren Matcha Fuji bestellt, befindet sich im Vērmanes dārzs” Park und nennt sich Tabu Tea House. Tabu, weil es sich mit seiner grün-bräunlichen Holzfassade und seiner gemütlichen Inneneinrichtung in die ruhige Idylle des umliegenden Parks einfügt. Es bietet in der lettischen Hauptstadt einen Ort, um sich zurückzuziehen und nachzudenken. 

Anastasija sitzt in der zweiten Etage des Cafés, die an einen Balkon erinnert. Sie gibt einen Blick auf die untere Etage frei, sodass man die Barista beim Zubereiten der Getränke beobachten kann. Anastasija trägt eine grüne Hose und auf ihrem schwarzen T-Shirt ist eine bunte Eule abgebildet. Ihre kurzen rötlichen Haare liegen in einem Seitenscheitel. Da sie der ethnisch russischen Minderheit angehört, die in Lettland ungefähr ein Viertel der Bevölkerung ausmacht, ermöglicht sie einen Blick auf die politischen und alltäglichen Veränderungen dieser russischen Identität in Riga.  

Am Tag der russischen Invasion der Ukraine hielt Anastasija sich selbst nicht in Riga auf, sondern in St. Petersburg. Sie realisierte, dass sie als Journalistin, die für ein lettisches Nachrichtenportal arbeitet, nicht länger sicher in Russland würde leben können, nachdem sie an einer Anti-Kriegs-Demonstration teilgenommen hatte und sich die Verhaftungen aufgrund der Äußerung einer Meinung häuften. So kehrte sie nach Jahren an ihren Geburtsort Riga zurück. Anastasija ließ mit dieser Entscheidung die blühende Petersburger Literaturszene zurück, für die sie ursprünglich nach Russland gezogen war. Sie tauschte ihren gewählten Ort der Kultur und der literarischen Freiheit gegen einen Ort der persönlichen Freiheit.  

Wieder in Riga half Anastasija ukrainischen Geflüchteten bei der Organisation von Essen, Kleidung und der Weiterreise an andere Orte. Als Russin habe sie sich für das, was von ihrem Land” ausgehe, verantwortlich gefühlt und hoffte so etwas dazu beizutragen, dass sich die Situation zumindest für einzelne Menschen verbessern würde, erzählt sie. 

Präsent für Anastasija waren aber nicht nur die Angst vor einem sich weiter ausbreitenden Krieg und die Ankunft ukrainischer Geflüchteter, sondern auch die verschärfte Haltung gegenüber der russischsprachigen Minderheit und alles, was an die sowjetische Vergangenheit erinnert. Schon vor dem Krieg hatte man einen gravierenden Vorteil, wenn man die lettische Sprache fließend beherrschte.” erklärt Anastasija. Sowieso sei es schwieriger, mit geringen bis gar nicht vorhandenen lettischen Sprachkenntnissen Arbeit zu finden, was zu einem Einkommensunterschied zwischen lettisch- und russischsprachigen Bürger*innen führe. Seit dem 24. Februar 2022 verstärke sich die Zurückdrängung der russischen Sprache. Bald soll es zum Beispiel keine russischen Untertitel mehr in Kinos geben und die russischen Versionen bestimmter Websites verschwinden”. Nach Anastasija hätten viele Russ*innen Angst davor, ihre Meinung zu äußern und vor allem jüngere Menschen sorgten sich um ihre oftmals älteren Verwandten, die der russischen Propaganda vermehrt Glauben schenkten. In den 90er Jahren bot Russland den Nicht-Bürger*innen Lettlands eine russische Staatsbürgerschaft an. Nicht-Bürger*innen sind nach lettischem Recht Menschen mit einem dauerhaften Aufenthaltsrecht und besitzen weder eine lettische noch eine andere Staatsbürgerschaft. Viele gingen auf das Angebot ein, da zum einen kein Sprachtest benötigt wurde, um sie zu erlangen und zum anderen von der damals früher eintretenden russischen Rente profitiert werden konnte. Sie konnten nicht an lettischen Wahlen teilnehmen, einige Jobs waren ihnen nicht zugänglich und es bestand eine Visumpflicht, um in spezifische Länder einzureisen, von der lettische Staatsbürger*innen befreit waren. Mit dem Kriegsanfang am 24. Februar 2022 kam auch eine Gesetzesänderung, sodass alle russischen Staatsbürger nun doch einen lettischen Sprachtest des Levels A1/A2 bestehen müssen. Andernfalls werden die Betroffenen nach Russland abgeschoben. Anastasija erklärt, dass das vorangeschrittene Alter der Nicht-Bürger*innen ein Problem darstelle. Zwar könne man den Sprachtest umgehen, wenn die Person älter als 75 Jahre sei, dennoch hätten die älteren Menschen unter 75 Jahren die lettische Sprache nie benötigt und gelernt. Das sei eine große Hürde, um den Test zu bestehen. Für Anastasija und viele andere junge Menschen russischer Herkunft sei das Bangen um die ältere Verwandtschaft und das Unwissen bezüglich ihres zukünftigen Verbleibs groß, sagt sie.   

Ein weiteres, viel diskutiertes Thema ist der Abriss des „Denkmals für die Kämpfer der Sowjetarmee – die Befreier des sowjetischen Lettlands und Rigas von den deutsch-faschistischen Invasoren“. Für Anastasija und viele andere Menschen mit russischem Hintergrund handelte es sich um einen Ort, an dem sich an verstorbene Großeltern erinnert und in deren Namen Blumen niedergelegt wurden. Es sei kein Ort, um die Sowjetunion zu zelebrieren, sondern um verstorbenen Familienmitgliedern nah zu sein. Sie ist bestürzt, dass die russische Minderheit im Prozess der Entscheidung übergangen worden sei und die lettische Regierung, ohne sie einzubeziehen, rigoros das, was an die sowjetische Vergangenheit erinnert, entfernte. Stattdessen hätte man eine historische Einordnung in Form einer Tafel oder Beschriftung hinzufügen können, schlägt Anastasija vor. In der Frage, wie mit den noch bestehenden Denkmälern umgegangen werden soll, existieren viele unterschiedliche Meinungen, die häufig mit den familiären Erfahrungen in der Sowjetzeit zusammenhängen. 

In der neuen alten Heimat empfingen Anastasija viele Veränderungen. Eine jedoch brachte sie selbst nach Riga: Russischsprachige Poetry-Slam Events. Nachdem sie zurückgekehrt war, fehlte ihr als Dichterin das russischsprachige literarische Leben in der Stadt. Daher beschloss sie, Poetry-Slam Events zu veranstalten, die jeder und jedem Dichter*in, ob in der Literaturszene bekannt oder nicht, jeweils fünf Minuten die Möglichkeit bieten, ihre Kunst in die Welt zu tragen. 

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Foto: Hannah Isabella Schlünder