In Lettland herrscht kein Krieg. Aber nebenan greift Russland seit über einem Jahr die Ukraine an – mit schrecklichen Folgen. Ukrainer*innen fliehen nach ganz Europa und brauchen Hilfe, auch in Lettland. Eine Initiative zeigt, was sie kann. 

Es ist unangenehm trocken und heiß auf dem Platz vor Rigas Rathaus. Gestresste Rathausangestellte eilen herum, den Schweiß auf der Stirn. Gegenüber thront das malerische Schwarzhäupterhaus, eine beliebte Tourist*innenattraktion. Als dritter Punkt in dem Dreieck, das den Platz einrahmt, fungiert das Museum der Okkupation Lettlands. Es ist ein moderner Betonbau, ein Klotz, versehen mit zahlreichen schlichten, grauen Säulen. An den Säulen ist eine neue Ausstellung angebracht – sie setzt mit Fotos und Kunst eine Verbindung zwischen dem Holodomor, Stalins Genozid an der Ukraine und dem Angriff Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022.

Irgendwo in diesem Dreieck versteckt sich die Initiative „Common Ground“ – ein zivilgesellschaftlicher Zusammenschluss, der sich der Hilfe für ukrainische Geflüchtete verschrieben hat. Zuerst ist die Initiative unauffindbar, bis sich die dunklen Glastüren hinter dem Rathaus als Durchgang offenbaren. Dort unten, in einer kühlen, schattigen Unterführung, empfängt Inese Dabola alle Besucher*innen, die den Weg finden. Die aufgeweckte lettische Kunstmanagerin ist eigentlich verantwortlich für die RIBOCA. 

RIBOCA ist die internationale Biennale für Gegenwartskunst in Riga – die sollte gerade stattfinden, als der Krieg über die Ukraine hereinbrach. „Am 24. Februar wachten wir alle zu den Nachrichten auf, dass der Krieg begonnen hat“, sagt Inese. „Und da dachten wir uns, dass wir helfen müssen. Wir haben das als Team sofort publik gemacht. Es war ja erstmalig so, dass so viele Geflüchtete nach Polen, Lettland, Litauen und Estland gekommen sind. Aber Lettland ist ein kleines Land. Also kennt man viele Leute, die helfen, sofort etwas aufzubauen. Wir haben dann direkt dieses Community Center hochgezogen. Das ist ein Ort, an dem sich die Menschen treffen, an dem Ukrainer*innen einander sehen und sich mit Lett*innen austauschen können. Dafür veranstalten wir verschiedene Events, zum Beispiel einen Borschtsch-Wettkampf. Das ist immer ein schönes Event, weil alle ihr eigenes Borschtsch-Rezept haben, und alle sagen, dass ihres das beste ist.“

Die Initiative befindet sich in einem Kellerbereich des Rathauses – früher war dort ein Café. Dieses wurde nun zu einer kleinen, aber gut ausgestatteten Kantine umgewandelt. Für den Moment ist die Kantine leer, es ist früher Nachmittag, das Mittagessen ist gerade vorbei. Vereinzelt kommen Menschen vorbei, um sich einen Kaffee zu holen, und werden herzlich an der Theke begrüßt, an der Freiwillige arbeiten, begrüßt. In der Küche arbeiten, so erzählt Inese, auch einige Ukrainerinnen. In einer Ecke steht ein Fahrrad, es wurde von dem gegenüberliegenden Fahrradladen gespendet. Für den kommenden Samstag ist ein Konzert in der Kantine angesetzt.

Der Schein trügt

Aber die Lage ist nicht unbedingt so rosig, wie es der Anschein zuerst vermittelt. Anfangs, so Inese, waren die Lett*innen „sehr aktiv, brachten alles, was benötigt wurde, vorbei, Kuchen, oder halfen einfach beim Aufbau. Wenn es darum ging, aufzuräumen oder die Wände zu streichen, hatten wir immer genügend Leute. Das ist jetzt anders – wir organisieren regelmäßig Spendenveranstaltungen. Aber man bemerkt, dass sich etwas geändert hat. Die Menschen müssen darauf hingewiesen werden, dass der Krieg noch weitergeht. Aber ich kann das verstehen. Es ist überall so, dass die Menschen sich daran gewöhnen.“

Die Initiative verfügt noch über einen weitläufigen Aufenthalts- und Begegnungsraum für Kinder und andere Geflüchtete. An diesem Nachmittag sind die wild, manchmal rabiat spielenden Kinder schon von Weitem zu hören. Bei ihnen sind Betreuer*innen, manche von ihnen Freiwillige aus Lettland, andere selbst Geflüchtete. Sie sitzen zusammen mit den Kindern, basteln mit ihnen oder passen auf, dass sie beim Spielen nicht außer Kontrolle geraten. Gleich beim Eintreten grüßt ein Mädchen erfreut und heißt alle Besucher*innen willkommen. Sie mache das gerne, erklärt Inese. Eine ganze Reihe von Computern ist an der Wand aufgebaut – benutzt werden sie nicht.

„Hier sind immer viele Menschen“, sagt Inese. „Man kann einander nicht entkommen, man muss miteinander kommunizieren. Und das funktioniert. Und dann haben wir Ausrüstung wie diese Computer, die die Kinder zum Lernen für die Schule benutzen können. Aber, naja, in den Ferien wird das immer eine Art Gaming-Center. Daher müssen die Kinder sich mittlerweile für einen Zeitabschnitt eintragen, damit die Computer nicht immer besetzt sind.“

In einem Areal voller Matten, eigentlich der Yoga-Bereich, streiten sich einige Jungen vehement um ein Spielzeug. Für alles andere sorgt eine voll ausgestattete Bar – zu der Deutschland anscheinend seinen Teil beigetragen hat: „Tatsächlich kam der deutsche Botschafter ziemlich schnell hier vorbei und brachte ganze Paletten mit Nahrung von LIDL.“

Spaß, Spiele, Events – alles das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Menschen nicht völlig freiwillig an diesem Ort zusammenkommen. Der Grund für ihre Anwesenheit ist der Krieg in ihrer Heimat. Dieser ist ständig präsent. Eine Mutter, erinnert sich Inese, habe versucht, ihrem Kind vorzuspielen, dass sie in einem langen Urlaub wären. „Das Kind fing an zu weinen, weil es nicht mehr aus Lettland weg wollte, als die Mutter meinte, dass sie wieder zurückkehren würden“, erzählt Inese leise. „Es ist ein seltsames Gefühl für uns. Wir bauen dieses Zentrum auf, um diesen Menschen im Krieg zu helfen, und auf einmal haben sie hier so viel Freude, dass sie nicht mehr wegwollen.“

Nicht kleckern sondern klotzen

Auf die Frage hin, wie die aktuelle Lage in der Initiative ist, wie sich die Freiwilligen und die Geflüchteten fühlen, muss Inese kurz nachdenken. „Das ist nicht so einfach“, sagt sie nach einiger Zeit. „Wir in Lettland haben eben diese Vergangenheit mit der russischen Besetzung, deswegen verstehen wir besser, wie sich das anfühlt. Ich hoffe einfach, dass wir alle für unsere europäischen Werte einstehen. Es ist unvorstellbar, dass jemand einfach entscheidet, Kyjiw zu bombardieren.” Sie wolle einfach den Menschen helfen, erklärt sie. “Aber natürlich ist Lettland ein kleines Land, und wir haben keine unbegrenzten Ressourcen. Wir könnten trotzdem noch mehr tun. So eine Situation hatten wir noch nie, dass so viele Geflüchtete zu uns kommen – deswegen lernen wir auch gerade, wie wir mit dieser Lage umgehen.“ 

Ob Kritik aus der lettischen Gesellschaft kommt? „Während der Wahlen gab es Fragen, warum wir als Land so viel Geld für Geflüchtete ausgeben müssen. Aber ich versuche so etwas einfach zu ignorieren. Ich bleibe positiv und hoffe, dass wir ihnen so früh wie möglich helfen können, zurückzugehen und alles wieder aufzubauen.“ An dieser Stelle erinnert Inese sich noch einmal an die Tage nach dem 24. Februar 2022. „Ich weiß noch“, erzählt sie fast nostalgisch, „dass wir am Sonntag nach dem Beginn der Invasion wandern gegangen sind. Das war das ganze Team der Biennale. Und wir haben uns gedacht: Wir sind gut darin, Dinge zu organisieren, Events, Programme, Vorträge. Und dann haben wir einfach losgelegt.“ 

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Foto: Rahel Bueb