In Riga lebt halb Lettland – und damit unzählig viele verschiedene Überzeugungen und Lebensentwürfe. Einfach nur Leben und Arbeiten ist aber neben einem Krieg kaum möglich. Ein Lette spricht darüber, was der Krieg für ihn verändert hat. 

Jānis hat einen kräftigen Händedruck und eine klare, direkte Art. Seine Begrüßung ist knapp und präzise, er verschwendet keinen Atemzug, ist sparsam mit Gestik und Mimik. Er bewegt sich auf seinem Trekking-Fahrrad durch Riga, auf dem Gepäckträger ein Rucksack der lettischen Nationalgarde. Zum Gespräch setzt sich Jānis auf eine Parkbank und lehnt sein Fahrrad daran, gibt Acht darauf, dass es ordentlich steht und nicht hinfällt. Seine schlichte Käppi hängt er über den Sattel und begibt sich in eine zurückgelehnte, aber immer gespannte Pose.

Er ist Nationalgardist, wie es bereits sein Rucksack verrät, aber daran, wie man salutiert, erinnert er sich nicht. In seiner ganzen neunjährigen Dienstzeit hat er ein einziges Mal den Salut üben müssen. Als einmal, wie er erzählt, ein Sergeant von der regulären Armee – ein Unteroffizier – zu seiner Truppe kam, wollte der den Rekruten wütend das Salutieren beibringen – wurde aber schnell von einem Offizier zur Räson gebracht. In der Nationalgarde herrscht ein anderer Geist als in der regulären Armee. 

Jānis´ Motivation, der Truppe beizutreten, ist schnell erzählt. Er sah, wie die berüchtigten „grünen Männchen“ 2014 die ukrainische Halbinsel Krim besetzten, die Putin daraufhin als von Russland annektiert erklärte. Jānis befürchtete dasselbe für seine lettische Heimat und entschied sich für den Dienst. „Wir können nicht hier sitzen und darauf warten, dass Amerika uns rettet. Die NATO hilft denen, die sich selbst helfen“, sagt er. „Den Willen zu kämpfen, den müssen wir selbst haben. Viele junge Letten mit derselben Motivation kamen 2022 dazu, manche Bataillone haben sich in ihrer Größe verdoppelt.“ Auf die Frage hin, was es zu beschützen gelte, wird er deutlich: „Wenn wir unabhängig und, ehrlich gesagt, am Leben bleiben wollen, müssen wir etwas tun.“

Ich weiß einfach, dass ich Lette bin

In seiner Familiengeschichte sitzt die Sorge vor Russland tief. Sein Urgroßvater wurde von den Bolschewiken ermordet, wie er erzählt. Später, als Lettland von der Sowjetunion besetzt wurde, deportierte das stalinistische Regime die ganze Familie nach Sibirien. Erst als Stalin 1953 starb, kam seine Familie zurück in ihre Heimat.      

Trotz des aufgezwungenen Exils seiner Familie vor fünfzig Jahren lässt Jānis keinen Zweifel an seiner Identität: „Zuallererst bin ich Mensch. Dann Lette, dann Balte, und schließlich Europäer. Ich weiß einfach, dass ich Lette bin, ich musste diese Identität nicht finden. Es ist nicht gut, es ist nicht schlecht, es ist einfach die Grundlage meines Lebens.“ Kaum, dass Jānis über sich und Lettland spricht, kommt er wieder auf Russland.

„Ich habe einfach irgendwann realisiert, dass ich etwas tun muss, um meine Identität zu bewahren. Die meisten Menschen hier verstehen, dass Russland einen genozidalen Krieg in der Ukraine führt, und Offizielle wie Medwedew haben öffentlich geschworen, dasselbe mit Lettland zu tun. Es gibt nur etwa 1,8 Millionen von uns, es wäre viel leichter, als in der Ukraine, uns alle zu ermorden. Das werden wir nicht zulassen. Meine Identität hat sich zwar nicht geändert, aber was ich zu tun bereit bin, um sie zu schützen, schon.”

Aber seine Entscheidung, der Nationalgarde beizutreten, war nicht das Einzige, was ihn in dieser Hinsicht prägte. Janis muss einen Moment überlegen, bevor er auf seine Erfahrungen an der Universität eingeht. Er ist gegenwärtig Genetik-Forscher, hat Biomedizin an der Lettischen Universität studiert und arbeitet an seinem Master-Abschluss in Computer Science.  An der Universität lernte er Russen kennen, die davon überzeugt waren, dass sie in Lettland auf der Straße verprügelt würden, wenn sie Russisch sprächen. Er zeigt deutliches Unbehagen darüber, dass selbst Student*innen in einer derart „unterschiedlichen Informationssphäre“ leben können, in einer „alternativen Realität“, wie er es beschreibt. Besondere Bedeutung hatte das Studium für seine Entscheidung, sich stärker für sein Land einzusetzen, jedoch nicht.

Neben dem Krieg

Jānis wurde vor allem durch Russlands Annexion der Krim aufgeschreckt. Russlands Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 überraschte ihn dann weniger. „Natürlich waren wir schockiert und entgeistert von den Verbrechen und der Brutalität, aber überrascht? Kein Lette war davon überrascht. Das ist einfach das, was Russland tut.“ Er räuspert sich an dieser Stelle mehrmals und erinnert sich mit Unbehagen an den Tag der Invasion zurück. „All die Geschichten, alles, was Russland im Zweiten Weltkrieg in Lettland anrichtete, das ist genau das, was heute in der Ukraine geschieht. Wir sehen, wie sich diese Geschichte wiederholt – und uns wurde angedroht, dass sich diese Geschichte auch bei uns wiederholt. Deswegen schicken wir unsere Waffen in die Ukraine. Alle Panzer, die dort zerstört werden, kommen nicht mehr zu uns.“ Jānis wirkt im ganzen Gespräch ruhig und kontrolliert, aber wenn er über Russland spricht, verhärtet sich sein Gesicht und seine Stimme wird etwas tiefer. „Russland ist das größte Land der Welt! Es hat genug Platz. Wir sind nicht Russland.“

Was für einen Umgang mit Lettland Janis sich wünscht, macht er an einem einfachen Beispiel fest: „Viele Westeuropäer sagen, dass Balten Slawen sind. Sie sagen, nun, Letten sind ja auch irgendwie Russen, Osteuropa ist irgendein Mix, letztendlich seien alle irgendwie Russen. Das ist nicht wahr. Wir müssen mehr Aufmerksamkeit dafür schaffen, dass wir eine eigene Identität haben.“ 

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Foto: Leonard Hennersdorf