Der Entzug der eigenen Staatsangehörigkeit bedeutet einen tiefgreifenden Eingriff in die Identität eines Individuums und ist menschenrechtswidrig. Die Situation Lettlands so genannter Nicht-Bürger*innen im Fokus des baltischen Schmelztiegels der Identitäten.

Gemäß Artikel 15 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen hat jeder Mensch das Recht auf eine Staatsangehörigkeit und niemandem darf seine Staatsangehörigkeit willkürlich entzogen werden. Dennoch sind aktuell schätzungsweise 12 Millionen Menschen weltweit staatenlos, etwa 300.000 von ihnen in Lettland und Estland. 

Minderheiten von bedeutsamer Größe

Mit der 1991 erlangten Unabhängigkeit stand das Baltikum, wie auch alle anderen ehemaligen Sowjetstaaten, vor vielen Herausforderungen. Eine war die Notwendigkeit und Verantwortung der Integration und Sicherung der Grundrechte zahlreicher ethnischer Minderheiten und Identitäten.

Zu Beginn der 90er Jahre war der prozentuale Anteil der autochthonen, also der ethnisch lettischen Bevölkerung und der der russischsprachigen Einwohner*innen beinahe gleich groß. Letztere stammten genealogisch meist aus Russland, der Ukraine, Belarus, oder dem Kaukasus und waren zum Zeitpunkt der wiedererlangten Unabhängigkeit teilweise schon seit mehreren Generationen Einwohner*innen Lettlands.

Das „Nicht-Bürger*innen-Gesetz“

Besagte ethnische Minderheiten erhielten allerdings keine vollwertige Staatsbürgerschaft, sondern nur den Status „Nicht-Bürger*innen“. Die lettischen Staatsbürgerschaftsgesetze verlangten von allen nach dem Zweiten Weltkrieg Zugezogenen eine spezielle Einbürgerung, wenn sie Staatsbürger*innen werden wollten. Dabei waren lettische Sprachkenntnisse, eine Loyalitätsverpflichtung und eine Mindestwohndauer von 15 Jahren auf dem Staatsterritorium verlangt. Diese Praxis wurde von jenen Menschen, die ihren Lebensmittelpunkt nach Lettland und Estland verlegt hatten, als Diskriminierung empfunden. Insbesondere die Zukunft ihrer Kinder sahen sie bedroht. 

Aus Berichten des lettischen Verfassungsgerichts geht hervor, dass die offizielle Haltung in Lettland bis heute ist, nie jemanden staatenlos gemacht zu haben und „Nicht-Bürger*innen“ nicht staatenlos seien. Das „Nicht-Bürger*innen-Gesetz“ gelte für „ehemalige UdSSR-Bürger*innen, die keine Staatsbürger*innen Lettlands oder eines anderen Landes sind“. Des Weiteren wird betont, dass jene Menschen trotz zahlreicher diskriminierender Gesetze „im Wesentlichen“ die gleichen Rechte wie lettische Staatsbürger*innen hätten und der Status nur vorübergehend sei- bis man sich eben dem Loyalitäts-Check unterzogen hat.

Um sich dieser wagen Zukunftsaussicht im “eigenen Land” und der Staatenlosigkeit zu entziehen, kehrten einige in ihre ethnische Heimat, beispielsweise Russland, zurück. Dies war möglich, weil Russland kurzzeitig allen Menschen aus den ehemaligen Sowjetrepubliken erlaubte, die russische Staatsbürgerschaft zu beantragen. Diejenigen, die stärker im Baltikum verwurzelt waren und dies nicht taten, sahen sich fortan mit den Mankos des Sonderstatus konfrontiert. Das verwehrte Wahlrecht, also ihre Möglichkeit, politisch zu partizipieren, ist eines davon. Die Entscheidung zur Einführung einer Unterscheidung zwischen Staatsbürger*innen und „Nicht-Bürger*innen“ wird von vielen Betroffenen daher als eine Lösung politischer Natur wahrgenommen. Nach dem Zerfall der Sowjetunion stand die Frage der Schuld für die gewaltsame Annektierung Lettlands 1940 durch diese und die erlebten Repressionen unweigerlich im Raum. Die Angst vor einer erneuten Fremdherrschaft war groß. Das Problem der uneinheitlichen Interpretation der Geschichte ist bis heute ein gesellschaftliches Konfliktthema. 

Verschobene Verantwortlichkeit

Die Nichtregierungsorganisation European Network on Statelessness (ENS) mit Sitz in London meint in diesem Zusammenhang, dass Nicht-Bürger*innen bis heute oft als „Okkupanten“ oder „Sowjetsiedler“ wahrgenommen werden, obwohl die historische Migration ins Baltikum zu Sowjetzeiten eigentlich überwiegend dem besseren Arbeitsangebot geschuldet gewesen sei. Auch das Institute on Statelessness and Inclusion (ISI), eine Menschenrechts-NGO, die sich weltweit für das Recht auf eine Staatsangehörigkeit und die Rechte von Staatenlosen einsetzt, schreibt: „Staatenlosigkeit kann auch das Ergebnis des Entzugs der Staatsbürgerschaft sein, der im Namen der nationalen Sicherheit durchgeführt wird, sich aber oft gegen politische Gegner und Menschenrechtsverteidiger richtet.“

Tatsächlich wäre aus rechtlicher Sicht auch ein anderer Weg möglich. Im Gegensatz zu Lettland und Estland wählte beispielsweise das Nachbarland Litauen zum Zeitpunkt der Wiederherstellung seiner Unabhängigkeit die „Null-Option“, die allen Einwohner*innen eine gleichwertige Staatsbürgerschaft garantierte.

In Lettland sei es allerdings entgegen politischer Versprechen und internationaler Vereinbarungen vor der der Unabhängigkeit zum „Entzug oder der Behinderung des Zugangs zur Staatsangehörigkeit und den damit einhergehenden Rechten“ gekommen, erläutert der Politikwissenschaftler Aleksejs Ivashuk. Er ist Mitglied bei ENS, ISI und hat zusätzlich mit anderen staatenlosen Menschen Europas das Apatride Network gegründet. Dieses arbeitet unter der Maxime „Das Recht, Rechte zu haben” unter anderem mit dem UN-Flüchtlingskommissariat UNHCR zusammen. Er selbst wurde im Kindesalter staatenlos, obwohl seine familiären Wurzeln in Lettland auf über 100 Jahre rekonstruierbar seien, erzählt er.

Die Nichtanerkennung Lettlands seiner Staatenlosigkeit sei Absicht, um sich aus der Verantwortung zu ziehen. Er kritisiert, dass die rechtlichen Regelungen in Europa diesbezüglich generell unzureichend seien: „Viele Länder, insbesondere in der Europäischen Union besitzen kein offizielles Verfahren zur Feststellung von Staatenlosigkeit.“ Und wenn sie doch über irgendeine Art Verwaltung verfügten, werde Staatenlosigkeit zum Gegenstand willkürlicher Verfahren, welche für die Behörden leicht zu ignorieren seien.

Ivashuk sieht auch die Europäische Union in der Verantwortung. Denn im Zuge der Beitrittsbemühungen in die EU, haben sich die Gesetze insbesondere für Kinder von „Nicht-Bürger*innen“ stark verbessert. Diese dürfen seit 2020 beispielsweise nicht mehr in die Staatenlosigkeit hineingeboren werden. Dennoch gab es 2019 nach Angaben der lettischen Regierung immer noch 237.759 jener „Nicht-Bürger*innen”. Diesen werden nicht nur entscheidende nationalstaatliche Rechte, sondern auch Privilegien der EU entzogen, wie das Recht der Freizügigkeit, also das Recht, sich in der Europäischen Union frei zu bewegen, in jeden anderen Mitgliedstaat einzureisen und sich dort aufzuhalten. Ivashuk konstatiert, dass die EU die „goldene Chance verpasst“ habe, Lettland vor dem Beitritt 2004 stärker für seine Ethnopolitik zur Verantwortung zu ziehen.

Denn auch wenn die Einbürgerungsverfahren erleichtert werden, stellen sie nach wie vor eine Diskriminierung dar. In dem Buch „The last prisoners of the cold war” teilen „Nicht-Bürger*innen“ unterschiedlichen Alters, Geschlechts und ethnischer Herkunft ihre Geschichten und Perspektiven. Oft wird das Gefühl der Demütigung beschrieben. Obwohl Vladislav Andreyev, damals 28, die Einbürgerung als einen Prozess des Rückerwerbs dessen, was gestohlen wurde, betrachte, habe er sich dem Prozess unterzogen. Seine Hauptmotivation sei gewesen, das Wahlrecht zu erlangen, um das politische Leben in seinem Land zu beeinflussen, selbst unter ungerechten Regeln: „Ich musste meine Loyalität gegenüber dem Staat und mein Wissen über seine Geschichte unter Beweis stellen. Das ist ein abscheuliches und demütigendes Verfahren. Andere Letten, die direkt an meiner Seite leben, müssen nichts beweisen.“ Die Einbürgerung sei auch deswegen kein Allheilmittel gegen die Diskriminierung und Spaltung in Lettland, da viele russischsprachigen Menschen, vor allem die ältere Generation, die Prüfungen einfach nicht bestehen könnten und die Staatsbürgerschaft auch ohne gerichtliches Urteil verweigert werden könne, wenn die Loyalität eines Kandidaten als unzureichend erachtet werde.

Ivashuk sagt, um das weltweite Problem der Staatenlosigkeit zu lösen, müssten Rassismus, staatliche Behinderungen, Fehlinformationen und alle anderen Formen der Diskriminierung aufgedeckt und bekämpft werden. Staatenlosigkeit sei vielschichtig und komplex, ein Thema, das weltweit stattfinde – auch im Westen. Die Sensibilisierung und das Bewusstsein seien zentral und das, was er sich von Nicht-Betroffenen wünsche. Denn: „Wissen ist Macht – und die Stimmen der Staatenlosen müssen die Quelle für dieses Wissen sein.“ 

________________________________________________________________________

Illustration: Amina Nasser