Es ist ein regnerischer Tag und wir sind etwas verspätet zu unserem Treffen mit einem Mann, der einen weiten Weg hinter sich hat. Er ist viel gereist, hat in London studiert, in Israel gelebt und gearbeitet, kommt aus Russland und lebt nun seit Mai letzten Jahres in Riga, wo er sich beim größten lettischen Nachrichtenportal Delfi überwiegend mit den Außenbeziehungen zu Russland beschäftigt. Lev Kadik hat eine besondere Geschichte und um diese zu erfahren, treffen wir ihn heute in einem Café inmitten des Rigaer Stadtzentrums, unweit seines neuen Zuhauses. Als wir den Raum betreten, winkt uns Kadik aufgeregt zu; wir sollen uns zu ihm setzen. 

UnAuf: Wann haben Sie Russland verlassen und weshalb genau?

Lev Kadik: Das ist eine einfache und zugleich schwierige Frage. Kurz gesagt ist es wegen des Krieges. Es gibt aber auch weitere Gründe: Einer davon ist die zunehmende Verfolgungsmaschinerie in Russland, wo in den letzten Jahren repressive Gesetze, unter anderem zur Meinungsfreiheit, eingeführt wurden. Im Anschluss an den Überfall auf die Ukraine hat Russland eine Reihe von Gesetzen verabschiedet, die dich buchstäblich schuldig sprechen, sobald du etwas gegen den Krieg sagst. Es ist eine Frage der Existenz – wenn man nicht für den Krieg ist, ihn nicht unterstützt, kann man einfach nicht leben und sich sicher fühlen. Meine Entscheidung war also eigentlich sehr einfach. Ich bin nicht 20, sondern 45 Jahre alt und habe Familie – also bin ich gegangen.

UnAuf: Es muss einen Punkt gegeben haben, an dem die Konditionen nicht sonderlich gut waren, Sie aber dennoch in Russland geblieben sind. Wann kam der Punkt, an dem Sie beschlossen haben, zu gehen?

Lev Kadik: Dieser Punkt kam im Jahr 2020, als Putin die Verfassung durchsetzte. Sie machte ihn zu einem lebenslangen Herrscher. Da wurde mir und meiner Frau klar: Wir müssen das Land mit unseren Kindern verlassen. Wir machten also einen Plan. 

UnAuf: In welcher journalistischen Abteilung haben Sie damals in Russland gearbeitet? Und welche Veränderungen haben Sie in Ihrer Arbeit in Russland festgestellt, als der Krieg ausbrach?

Lev Kadik: Kurz bevor der Krieg ausbrach, arbeitete ich für die russische liberale Wirtschaftszeitung Kommersant als Redakteur für Innenpolitik. Dann wurde ich letzten Herbst, kurz bevor der Krieg ausbrach, wegen Fehlverhaltens gefeuert. Ich habe einen Artikel weitergegeben, den sie nicht drucken wollten – als Redakteur. Bei der Kommersant handelt es sich um eine vom Kreml kontrollierte Wirtschaftszeitung. Ich versuchte, eine Geschichte aus meiner Korrespondenz zu veröffentlichen, in der es im Wesentlichen darum ging, dass Putins Partei und sein politisches Programm Blödsinn sind. Dann hatten sie genug von mir. Sie sagten zu mir, “Tschüss, verschwinde!”. Was heute in Russland als Journalismus bezeichnet wird, ist nicht wirklich Journalismus. Es ist vielmehr eine dünn verschleierte Art der Propaganda. Die Zeitungen, die jetzt in Russland erscheinen, veröffentlichen das, was ihnen aufgetragen wird. 

UnAuf: Was denken Sie über Menschen, die an diese Propaganda glauben oder Journalist*innen, die immer noch an diesem System festhalten?

Lev Kadik: In der Öffentlichkeit gibt es sehr unterschiedliche Haltungen gegenüber der russischen Propaganda. Ich kann nur sagen, dass ich aus meiner Erfahrung und von dem Wissen, das ich habe, anhand der Daten, die ich wie jede*r andere lesen kann, das Gefühl habe, dass die russische Nation nicht eine einheitlich denkende Bevölkerung ist. Sie ist vielmehr eine sehr komplexe Gesellschaft. Auf den Straßen Russlands können Sie keine drei Menschen finden, die die gleiche Meinung haben. 

Das Problem ist aber, dass es keine Möglichkeit gibt, sich auszudrücken. Russland ist ein diktatorischer, tyrannischer Riese. Ich war beispielsweise auf einer Antikriegsdemonstration im Jahr 2014, als eine solche noch möglich war und sie war riesig. Jetzt wird man ins Gefängnis geprügelt, wenn man zu einer solchen geht. Aber die nationale Stimmung und die Haltung dem Krieg gegenüber ist negativ. Das ist der Grund, weshalb  es keine Massen von Freiwilligen in der Armee gibt. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte müssen die russischen Behörden Menschen für den Krieg mit Geld anwerben. Die Freiwilligen, die heute in die Armee dazustoßen, erhalten Zahlungen von etwa 2000 bis 2500 Euro pro Monat. Das sind  für viele Russen immense Summen. Eigentlich bestechen sie dich, damit du an die Front gehst und stirbst. Und wenn du stirbst, zahlen sie deiner Familie eine Entschädigung, die etwa 30.000 Euro beträgt. 

UnAuf: Stehen Sie noch in Kontakt zu Ihren ehemaligen Kolleg*innen?

Lev Kadik: Mit einigen von ihnen, aber nur mit wenigen. Ich verstehe, weshalb sie das getan haben, weshalb sie in diesem Unrechtsstaat bleiben. Aber Verstehen heißt nicht Vergeben oder Vergessen. Meiner Meinung nach gibt es für ihr Bleiben mehrere Gründe. Der erste ist Angst, der zweite ist Geld: Sie haben eine doppelte Gehaltserhöhung erhalten. Und der dritte Grund ist, dass es in Russland immer viel vorteilhafter war, Teil des Systems zu sein. Man muss also schon sehr mutig sein, um mit dem System zu brechen. 

UnAuf: Haben Sie Sorge, dass Putin Lettland angreifen könnte? 

Lev Kadik: Ich verstehe die Angst der Lett*innen, aber ich glaube nicht, dass das passieren wird. Das habe ich nicht geglaubt, als Putin die Invasion der Ukraine startete und ich glaube es auch zum jetzigen Zeitpunkt nicht. Dafür gibt es zwei Gründe: Auf der einen Seite möchte Russland eine direkte Konfrontation mit der NATO vermeiden, welche zustande käme, wenn er Lettland, Estland oder Litauen angreift. Putin versteht aber, dass es dann zu einem nuklearen Konflikt kommen könnte. Mit Sicherheit. Putin hat keine selbstzerstörerischen Absichten, er will sich und Russland nicht in einem letzten Kampf opfern. Im letzten Jahr gab es sehr viele Situationen, in denen er nukleare Waffen hätte nutzen können, aber er tat es nicht. Auf der anderen Seite ist die russische Armee in einer schlechten  Verfassung. Sie hat viele Soldaten und mit ihnen ihre Selbstsicherheit verloren. Außerdem fehlen ihr Waffen und Ressourcen. Es fehlt ihr also an allem, um einen neuen Konflikt zu starten. 

Ich glaube, dass eine viel größere Gefahr für die Ukraine besteht, die darin liegt, dass die europäischen Gesellschaften das Interesse an dem Krieg verlieren, wenn er noch lange andauert. Nach und nach werden in allen europäischen Ländern die Stimmen derjenigen lauter werden, die die Regierungen fragen, warum sie die Ukraine überhaupt unterstützen. Putin will und erwartet, dass die Unterstützung der Ukraine auf diese Weise schwindet. Der Plan Putins ist es, die westliche Unterstützung der Ukraine auszusitzen. Danach würde Putin mit Verhandlungen beginnen, in denen er einen möglichst großen Teil des ukrainischen Territoriums beansprucht. 

UnAuf: Würden Sie es erwägen, irgendwann nach Russland zurückzukehren?

Lev Kadik: Ich weiß genau, wann das sein wird – wenn Putin an der Wand des Kremls hängen wird. Ich werde nicht nach Russland zurückgehen, bevor dieses Regime gefallen ist. 

Das Gespräch führten Hannah Isabella Schlünder und Rahel Bueb.

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Foto: The Moscow Times