Travis Wilkerson lebt mit einer Angst. Seit er denken kann, konfrontierte ihn seine Mutter mit der Bedrohung eines nuklearen Weltkrieges. Als ihn seine Mutter auf eine Reise zu den Atomsilos der US mitnimmt, filmt er sie – und verliert seine Angst. 30 Jahre später, nach der Wahl Donald Trumps, bekommt er wieder Angst und nimmt seine eigene Familie mit in das „schwarze Herz“ Amerikas, mit zu den Abschussrampen der Interkontinentalraketen.

Gleich zu Beginn möchte man meinen, der Film der Filmemacher*innen Erin und Travis Wilkersons möchte vor den Folgen eines thermonuklearen Krieges warnen. Zusammen mit ihren Kindern Matilda, Dalton und Adva besuchen sie Abschussanlagen und Orte, die die Entfremdung Amerikas vom Leben als höchstes Gut symbolisieren. Das ausgerechnet Blumen Wilkersons aufgeworfene These stützen, macht den Reiz dieses essayistischen Panoramas aus.

Nuclear Family changiert zwischen Dokumentation und Essay. Anstatt lediglich ein warnendes Licht auf die Atomrakete zu werfen, stellt sich der Film vor allem die Frage, wie mit der Angst umzugehen ist. Die Angst ist da, weil die Bedrohung keine Einbildung ist, sie kann nicht verschwinden. Die Familie die dabei im Zentrum des Geschehens steht ist Opfer und Feind zugleich. Opfer, da ein Atomschlag alle Menschen trifft, Feinde, da Atombomben den Menschen als absolutes Feindbild voraussetzen.

So führt sie die Reise durch das „schwarze Herz“ Amerikas, durch Montana, dass Wilkerson in eindrucksvollen Prärielandschaften festhält. Wo einst Siedler*innen die indigene Bevölkerung des Landes systematisch verfolgten und ausrotteten, sind nun Minuteman-III-Interkontinentalraketen der US Army stationiert. „Sie haben das Land mit der Waffe genommen, das Land ist zur Waffe geworden, die Waffe zielt auf alle Köpfe“, schlussfolgert Wilkerson. Er scheut nicht davor, die Pionierzeit amerikanischer Geschichte als einen Akt willkürlicher Gewalt zu untersuchen, als einen Akt, der die industrielle Massenproduktion von Atomwaffen als logische Konsequenz plausibel macht. Landschaftsbilder wechseln mit historischen Aufnahmen von Atomwaffentests und so perforiert Wilkerson auch das US-amerikanische Verhältnis zur eigenen Geschichtsschreibung.

Dokumentarisch zeigt der Film, wie die psychischen Belastungen der Raketen-Crews schon jetzt die Apokalypse vorwegnehmen. Er erzählt von Drogen- und Alkoholmissbrauch in den Raketensilos, von Menschen, die auf eine Aufgabe warten, die sie hoffentlich nie erfüllen müssen. Dabei stehen die Kinder von Erin und Travis Wilkerson auf malerischen Wiesen, während hinter Maschendrahtzäunen eine fremde Welt sich nie ganz zu erkennen gibt und in der das Leben des*der Einzelnen wie auch der gesamten Spezies nur Kalkulation sind.

Wo Gänseblümchen mutieren

Der besondere Höhepunkt von Nuclear Family stellen die Allegorien zwischen Menschen und Natur dar. Es folgt ein botanischer Exkurs über die Gewächse der Prärie und welche davon „invasiv“ seien. Erin Wilkerson entdeckt während des Drehs zufällig eine Blume, die wie ein Löwenzahn aussieht, aber drei in sich verflochtene Blumenkelche besitzt. Es ist eine schön anzusehende Mutation, wie Travis Wilkerson im Film erklärt, – und doch ein Zeugnis des Schreckens. Eine solche Mutation wurde das erste Mal nach dem Abwurf der Atombombe auf Hiroshima untersucht. Damals wuchsen nach der Explosion entstellte Gänseblümchen, die sogenannten Hiroshima Daisies. Heute schaut die Familie auf eine solche Mutation vor den Raketensilos Montanas.

Eindrucksvoll zeigen Erin und Travis Wilkerson, dass Militarismus und die Entfremdung von der Natur unweigerlich zur Entwicklung einer Waffe gegen alles Leben führen müssen. Doch gibt Nuclear Family den Betrachtenden am Ende eine Lösung an die Hand, die auf den ersten Blick beliebig erscheinen mag. Durch die Konfrontation mit der existentiellen Bedrohung schildert die Reise der Wilkersons, wie mit der ständigen Angst gelebt werden kann. Der Film will nicht belehren, sondern verstehen, wie es zu einer solchen Entwicklung kommen konnte. Dass dabei weniger die Bomben selbst, sondern die Natur und der Umgang mit der eigenen Geschichte eine Rolle spielen, macht Nuclear Family zu einem sehenswerten Stück.


Foto: Creative Agitation