Während einige Filme der Berlinale uns in metaphorische und weichgezeichnete Welten entführen, führt uns A Bit of a Stranger von Svitlana Lishchynska durch eine Zusammenstellung von Archivbildern, die bis November 2023 reichen, direkt in die brennende Aktualität des Krieges in der Ukraine.

Die historischen Ereignisse entfalten sich durch den Lebensweg von vier Generationen derselben Familie. Diese Frauen, die aus Mariupol stammen, einer Grenzstadt mit ausgeprägtem russischen Einfluss, die nach und nach von Angriffen verwüstet wurde, erleben die Tragödie eines ganzen Volkes fast organisch, da sie gezwungen sind, zwischen ihrem russischsprachigen sowjetischen Erbe und ihrer Verbundenheit mit der ukrainischen Nationalität zu wählen. Es erfordert zweifellos eine gewisse Demut von der Regisseurin, ihre eigene Familie zum Gegenstand der Untersuchung zu machen, deren innere Spannungen und emotionaler Mangel schonungslos offengelegt und als Spiegelbild einer fragmentierten ukrainischen Gesellschaft analysiert werden, die im Innersten von einer Geschichte ununterbrochener politischer Herrschaft beeinflusst ist.

Die Berichterstattung der Medien über Kriege neigt dazu, unsere Wahrnehmung von Ländern auf bestimmte Daten oder Orte zu begrenzen und präsentiert oft eine einseitige Erzählung, die nur schwerlich einer Form von Dualismus entkommen kann. Dieser Dokumentarfilm hingegen versucht, unseren zeitlichen und räumlichen Horizont zu erweitern, indem er uns in die Familienreisen zwischen Mariupol und der etwas geschützteren Hauptstadt Kyiv eintauchen lässt und somit zwei unterschiedliche Realitäten innerhalb eines Landes offenbart. Durch die Vermischung der alltäglichen Erzählung der Monate nach der russischen Invasion im Jahr 2022 mit Bildern aus einer früheren Zeit – der Sowjetunion in ihrer Blütezeit und ihrem Niedergang – beleuchtet der Film die tiefen Wurzeln des aktuellen Konflikts. Diese haben sich bereits in den Köpfen der Menschen gebildet, lange bevor sie sich auf dem Schlachtfeld manifestierten, und betonen somit die Komplexität und das Alter der Spannungen, die dieses Land durchziehen.

Der Film verdeutlicht auch, dass in einer akuten politischen Krise das idealisierte Bild von einem einfachen Beitritt zur nationalen Einheit nicht so selbstverständlich ist, wie man vielleicht denken würde, und dass stattdessen die zwischenmenschlichen Beziehungen auf die Probe gestellt werden können. Die tiefe Verletzlichkeit eines Landes zwingt jeden Einzelnen dazu, sein Wertesystem neu zu überdenken und seine Reaktionen mit denen anderer zu vergleichen. A Bit of a Stranger greift  diese Zeit der Selbstreflexion auf und konzentriert sich dabei auf die Dynamik innerhalb der Familie, in der es schwierig wird, zwischen dem Vertrauten und dem Fremden zu unterscheiden, zwischen Zugehörigkeit und Distanz zu jonglieren.

Manchmal bleiben wir ein wenig unbefriedigt, da die Regisseurin uns willkürlich in alltägliche Sequenzen ohne große Wirkung einbindet, in denen die Suche nach einer tieferen Bedeutung vergeblich erscheint. A Bit of a Stranger lässt uns mit Frustration zurück; es scheint, als läge darin  ein gescheiterter Versuch der Regisseurin, Sinn in ihre eigenen Familienbeziehungen zu bringen und eine Kommunikation herzustellen, die in der gewünschten Form womöglich nie stattfinden kann. Zweifel bleiben an der Absicht dieser Verwirrung, die sich durch den gesamten Film zieht.

Dennoch erinnert er uns einmal mehr daran, dass das Kino keine Kunstform am Rande der Gesellschaft ist, sondern tief in ihr verwurzelt ist. Auch wenn es keine klaren Erklärungen liefert, kann es dennoch als Medium fungieren, das uns in einer neuartigen, manchmal trüben, aber entschieden menschlichen Form Schlüssel zum Verständnis reicht.


Foto: UKR, DEU, SWE 2024, Panorama @Berlinale Stills