Die Journalistin, Fotografin und Vorstandsvorsitzende der Stiftung ZURÜCKGEBEN, Sharon Adler, hat mit der UnAuf darüber gesprochen, warum es wichtig ist, den Jüdinnen und Juden von heute eine Plattform zu geben und ihre Stimme hörbar zu machen. 

Nora Rauschenbach: Du hast im Jahr 2000 gemeinsam mit ein paar anderen Frauen an deinem Küchentisch das Online-Magazin AVIVA-Berlin gegründet. Was war damals deine Intention, dein Wunsch, deine Hoffnung?

Sharon Adler: Tatsächlich habe ich AVIVA zuerst allein an meinem Küchentisch gegründet und dann nach und nach weitere Frauen dazugeholt. Es gab damals mehrere Aspekte: Wir reden vom Jahr 1999. Da war das Internet noch nicht die Informationsquelle, die es heute ist, und ich habe AVIVA von Anfang an als eine Informationszeitschrift etablieren wollen. Für Frauen deswegen, weil mir frauenspezifische Inhalte, die über Mode und Diäten hinausgingen, gefehlt haben. Bei uns war etwa Frauengesundheit aus einem Genderaspekt heraus von Anfang an Thema. AVIVA ist am 1.2.2000 online gegangen und wir haben auch da schon, in diesen ersten Jahren, dazu berichtet. Zudem waren Frauen neben den inhaltlichen Aspekten auch als Akteurinnen in diesem damaligen neuen Medium Internet noch stark unterrepräsentiert.

Sharon Adler: Journalistin, Publizistin, Fotografin und Moderatorin.

Und wie kam dann der jüdische Aspekt ins Spiel?

Es hat mich persönlich umgetrieben, dass ich in meinem nicht-jüdischen Freund*innenkreis häufig gefragt wurde, ob Chanukka etwas mit Weihnachten zu tun habe, und was der Hintergrund sei. Es war mir wichtig, jüdische Inhalte abzubilden, die in anderen Frauenmedien dieser Zeit nicht vorkamen. Was habe ich denn damals gelesen? Das war zum einen die Emma. Alice Schwarzer ist natürlich aus heutiger Sicht als sehr problematisch zu erachten und für mich persönlich schon lange, spätestens aber seit ihren frauenverachtenden, die Verbrechen an den vergewaltigten Frauen in der Ukraine relativierenden Statements keine Vertreterin des Feminismus mehr. Dann gab es noch die Brigitte; die hatte damals auch noch sehr gute Reportagen von und für Frauen. Außerdem habe ich das Wirtschaftsmagazin brand eins, den Spiegel, die Jüdische Allgemeine und die Siegessäule gelesen. Insgesamt kamen mir jüdische Themen generell, außer natürlich in der Jüdischen Allgemeinen, zu wenig vor und wenn, dann drehte es sich fast ausschließlich um die Shoah. Lebende Juden und Jüdinnen waren quasi nicht vorhanden. 

Wir haben von Anfang an jüdische wie nicht-jüdische frauenspezifische Inhalte veröffentlicht, die wir als wichtig erachteten. Das ist bis heute so geblieben.

Du hast es gerade schon gesagt. AVIVA hattest du als Magazin für Frauen gegründet und es trägt auch den Untertitel „Online-Magazin für Frauen“. Ist das nicht ein bisschen sehr radikal-feministisch, exkludierend?

Finde ich überhaupt nicht, Nein. Ich finde nichts Diskriminierendes an dem Begriff Frauen. Im Gegenteil: Wir haben als eine der ersten queere Drag-Kings und -Queens interviewt und abgebildet, ohne nach dem Geschlecht zu fragen, was heute oft so betont und gewollt herbeigezerrt wird. Es wird von jeder einzelnen Person erstmal das Geschlecht erfragt, das finde ich diskriminierend. Der Begriff Frauen beinhaltet für mich alle, die sich in dieser Gruppe selbst verorten. Ich mache da keine Unterscheidung. Ich frage niemanden: Bist du als Frau geboren, bist du Transgender? Das finde ich übergriffig. 

Ist die Abbildung lebender Jüdinnen auch Inspiration für die gemeinsam mit der Bundeszentrale für politische Bildung entstandene Reihe „Jüdinnen in Deutschland nach 1945. Erinnerungen, Brüche, Perspektiven“?

Absolut. Ende 2019, unter dem Eindruck des Anschlags auf die Synagoge in Halle, wurde das Projekt von einer Redakteurin des Deutschland Archivs der bpb konzipiert, von Anja Linnekugel. Sie hat mich als Mitherausgeberin ins Boot geholt. Innerhalb dieser Reihe werden wissenschaftliche Beiträge und Essays sowie Interviews und Porträts veröffentlicht. Für die Zukunft sind Veranstaltungen, eine Ausstellung und ein Buch in der Schriftenreihe der bpb in Planung.

Uns als Herausgeberinnen ist es wichtig, die Diversität der Lebens- und Arbeitswelten von Jüdinnen heute abzubilden und ihre Beiträge in Kunst, Kultur, Literatur, Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Rechtsprechung, Medizin und Forschung sichtbar zu machen. Dafür porträtieren wir Frauen, die sich hauptberuflich oder ehrenamtlich für die jüdische Gemeinschaft engagieren. Wir machen wegweisende Akteurinnen sichtbar, die trotz vieler Widerstände und zahlreicher Herausforderungen gegen soziale Ungerechtigkeiten und auch immer gegen Antisemitismus kämpfen. Und nicht zuletzt ihre Erfahrungen als Angehörige der ersten, zweiten und dritten Generation von Überlebenden der Shoah im Nachkriegsdeutschland und bis heute.

Uns ist es wichtig, die Vielschichtigkeit von Jüdinnen in Deutschland heute abzubilden, also verschiedene Altersgruppen und Herkunft, Jüdinnen aus Ost- und Westdeutschland, aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion wie der Ukraine, die in den 1990er Jahren nach Deutschland gekommen sind, und aus Israel. Die Reihe ist ein Herzensprojekt für mich.

Du bist seit 2013 auch ehrenamtliche Vorstandsvorsitzende der Stiftung ZURÜCKGEBEN. Ihr begebt euch mit der Stiftung unter anderem auf die Suche nach den rechtmäßigen Besitzer*innen von in der NS-Zeit entwendeten Gegenständen. Wie kann ich mir so eine Suche vorstellen?

Das ist eine sehr gute Frage, vielen Dank dafür. Allerdings trifft das für die Arbeit der Stiftung so nicht zu. Du beziehst dich mit deiner Frage sicher auf eine aktuelle Doku bei Arte. Im Rahmen meiner ehrenamtlichen Tätigkeit als Vorstandsvorsitzende habe ich zwar im vergangenen Jahr eine Provenienzrecherche durchgeführt, im Übrigen komplett unbezahlt. Doch leider zeigt der Film nur einen winzigen Ausschnitt aus der Arbeit der Stiftung, die bis heute nicht institutionell gefördert wird und allein auf Spenden angewiesen ist. Die Stiftung wurde 1994 von einer Gruppe von jüdischen und nicht-jüdischen Frauen zur Förderung jüdischer Frauen in Kunst und Wissenschaft gegründet. Das Ziel ist die Vergabe von Stipendien an Jüdinnen für ihre Projektvorhaben in den Bereichen Kunst und Wissenschaft. Der zweite Aspekt, und deswegen auch der Name: „Zurückgeben“, befasst sich tatsächlich mit einer möglichen Rückgabe jüdischen Eigentums, mehr aber noch mit einer symbolischen Rückgabe durch das Einwerben von Spenden von nichtjüdischen Menschen und die Vergabe der Stipendien an Jüdinnen. Das ist sehr mühselig, denn die meisten Menschen fühlen sich in keinster Weise angesprochen, für die Stiftung zu spenden, auch dann nicht, wenn sich ihre Familie in der NS-Zeit an Jüdinnen und Juden bereichert hat.

Andererseits ist es so, dass sich seit vielen Jahren mehr und mehr Menschen an uns wenden und uns bitten, sie darin zu unterstützen, die ursprünglichen Provenienzen von Gegenständen wie Vasen, Küchenschränken und Schmuck zu recherchieren.

Wo fängt man da an? Das ist eine gute Frage, denn es gibt Deportationslisten, es gibt Versteigerungslisten und Ankauflisten und es gibt Eigentumslisten, auf denen der Besitz jüdischer Menschen aufgeführt werden musste, vom Betttuch bis zum Kaffeelöffel, über Spielzeug bis hin zu Büchern. Ich kann das nur zusammenfassend benennen: Es ist schwierig, es ist zeitaufwendig und es kommt in den seltensten Fällen tatsächlich zu einem Ergebnis. Es ist frustrierend und es ist auch emotional anstrengend, weil du dich natürlich durch die gesamten Listen wühlen musst und schwarz auf weiß nachlesen kannst, was jüdische Menschen gezwungen waren, abzugeben. Ich habe es gerade schon gesagt, das reichte vom Kinderspielzeug über die Schreibmaschine bis zum Porzellan oder anderen Haushaltsgegenständen. Hierbei ist sehr wichtig, zu betonen, dass es genau diese Dinge waren, die den jüdischen Menschen gestohlen wurden und dass es sich nicht immer, wie häufig angenommen wird, um Kunstgegenstände von hohem Wert handelte, gar nicht handeln konnte, denn schließlich hing nicht in jedem jüdischen Haushalt ein Klimt oder Klee im Wohnzimmer.

Was mir aus der Arte-Doku sehr im Kopf geblieben ist, sind die Eheringe, die der Familie Homburger entwendet wurden.

Ja, das hat mich auch gewundert, weil ich bis zu diesem Zeitpunkt davon ausging, dass Eheringe nicht abgegeben werden mussten. Ich hatte bis jetzt aber leider auch noch keine Gelegenheit, der Recherche weiter nachzugehen. Du hast ja die Listen gesehen, mit denen ich mich befasst habe, die sind endlos und die Gänge dort unten im Generallandesarchiv in Karlsruhe, die sind auch endlos und gefüllt mit tausenden von Aktenordnern, Dokumenten und Schicksalen. Das, was ich in den acht Monaten recherchiert habe, über diese Kette mit dem Brillantanhänger, das mich auf die Spur der Gemälde gebracht hat, das ist nur die Spitze des Eisbergs.


Illustration: Céline Bengi Bolkan

Foto: Mara Noomi Adler