Steffen Mau, 1968 in Rostock geboren, ist Professor für Makrosoziologie an der Humboldt-Universität. Mit der UnAuf spricht er über die Unsichtbarkeit des „Ostdeutsch-Seins“ im gesellschaftlichen Diskurs — und ihre Folgen.

UnAuf: Wo steht Deutschland in der Debatte Ost-West aktuell?

Steffen Mau: Aus meiner Sicht hat sich die Diskussion gelockert. Themen, die früher nicht im großen Diskurs stattgefunden haben, stehen heute auf der Agenda. Ich sehe außerdem, dass die Stimmen, die sich äußern, vielfältiger geworden sind und eine Normalisierung der ostdeutschen Identität eingetreten ist. Auch wenn das zu neuen Konflikten führt, weil die Menschen unterschiedliche Identitäten, Erinnerungsgeschichten und Perspektiven für sich beanspruchen. Zugleich versuchen rechtspopulistische Akteure, die Ost-Thematik auf eine eigenständige Art politisch zu vereinnahmen. Das ist eine neue Entwicklung, die wir vor fünf, sechs Jahren noch nicht so stark gesehen haben.

Inwieweit sind die Stimmen vielfältiger geworden?

Die Debatte ist jünger geworden. Auch Nachwendegeborene, selbst Menschen, die jetzt erst 20 Jahre alt sind, schalten sich in die Diskussion ein. So hat sie sich in gewisser Weise von dem losgelöst, was man das „Erbe der DDR“ nennen könnte. Heute geht es stärker um die Transformationsgeschichte, also Erfahrungen aus den 90er- und Nullerjahren, um Erfahrungen mit Arbeitslosigkeit, Gewalt oder Rassismus.

Jedoch spielt die Debatte bei jungen Menschen aus Westdeutschland eine deutlich geringere Rolle als bei jenen aus Ostdeutschland. Das ist eine Besonderheit der deutsch-deutschen Auseinandersetzung, dass dieses „Ostdeutsch-Sein“ unsichtbar im gesellschaftlichen Diskurs ist. Wenn Sie heute Personen fragen, ob es noch Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen gibt, antworten die meisten Westdeutschen ,Nein, die gibt es nicht’. Ostdeutsche hingegen sagen ,Ja, die gibt es’. Dieses Verneinen von Anderssein empfinden viele Ostdeutsche wiederum als Verletzung, weil das, was Teil ihrer Identität ist, im großen gesamtdeutschen Diskurs gar nicht einfließen kann.

Muss es dann Aufgabe der Westdeutschen sein, sich ostdeutschen Perspektiven stärker anzunehmen und zuzuhören?

Das betrifft nicht nur Ostdeutsche, sondern auch andere Minoritätengruppen, Personen mit Migrationshintergrund oder Transpersonen zum Beispiel. Es besteht immer die Aufgabe der Mehrheitsgesellschaft, inklusiv und empfänglich für andere Wahrnehmungen zu sein. Die Ostdeutschen haben es in gewisser Weise verpasst, auf diesen Diversitätszug, der jetzt in Fahrt gekommen ist, aufzuspringen. Wann immer über Diversität diskutiert wird, werden unglaublich viele Charakteristika aufgerufen, selbst Klasse ist ja wieder ein Thema. Aber Ost und West wird als Differenzmarkierung nicht thematisiert.

Das ist ein zentrales Problemfeld, das ich wahrnehme, dass die Ostdeutschen nach wie vor Schwierigkeiten haben, zu vermitteln, was eigentlich ostdeutsch ist. „Ostdeutsch-Sein“ wird auf eine unglaublich diverse Art und Weise besetzt, auch im politischen Kontext. Dennoch gibt es ein gemeinsames, aber unsichtbares Band, das sich von Rostock bis Chemnitz spannt, in dem die Menschen eine Identitätsschicht ausgebildet haben. 

Um für sich selbst sprechen zu können, braucht man eine Form der kollektiven Mobilisierung. Man braucht spezifische Diskurs- und Machtverhältnisse, in denen eine Diskussion möglich ist. Die Möglichkeit, überhaupt Teil des Diskurses zu werden, hängt auch davon ab, eine Position innezuhaben, von der aus man Gehör findet. Der Anteil von Ostdeutschen an den gesamtdeutschen Eliten liegt je nach Studie bei drei oder vier Prozent, ist also sehr gering, deutlich geringer als der Anteil an der Gesamtbevölkerung. Diesbezüglich sehe ich die Westdeutschen in der Pflicht, überall nachzuschauen, ob sie eigentlich Ostdeutsche in ihren Teams haben. 

Sie haben zu Beginn erwähnt, dass es auch Probleme mit der Normalisierung einer ostdeutschen Identität gebe. Welche sind das?

Vor wenigen Wochen ist die AfD durch die Friedrichstraße hier in Berlin marschiert und skandierte „Ost- Ost- Ostdeutschland“. Es gibt einen medialen Diskurs, der sagt, es gebe einen braunen Osten und die Rechten hätten dort übernommen. Und dann gehen die Rechten auf die Straße und sagen ja, Ostdeutschland ist anders, „national befreit“ oder „völkisch“ zum Beispiel. Sie bejahen Ostdeutschland unter der Vorherrschaft eines bestimmten nationalisierten Gedankengutes oder einer ethnischen Homogenität. Das ist unglaublich gefährlich, verweist aber auf eine Leerstelle: Indem man die ostdeutsche Perspektive im Diskurs häufig weggedrückt hat und nicht darüber verhandeln wollte, wurde Platz geschaffen für das Aufgreifen solcher identitätspolitischen Diskurse durch rechtspopulistische Akteure.

Problematisch ist, dass es kaum ostdeutsche Medien und dadurch keinen eigenständigen ostdeutschen Diskurs gibt. Das ist etwas, das Ostdeutschland als Folge der Wiedervereinigung seit den 90er-Jahren fehlt. Die ostdeutsche Gesellschaft ist politisch unglaublich unsortiert und dadurch sehr anfällig, zur Verfügungsmasse für bestimmte politische Akteure zu werden. Wenn Björn Höcke, der ursprünglich aus Nordrhein-Westfalen kommt, sich selbst in die Geschichte der friedlichen Revolution 1989 einreiht, dann kann das ja nur als Treppenwitz der Geschichte verstanden werden. Es besteht die Notwendigkeit, solche Tatsachen zu entzaubern und politisch zu bekämpfen. Das kann zum Teil durch die bundesrepublikanische Zivilgesellschaft und Öffentlichkeit insgesamt gemacht werden. Diese Vorgänge muss Ostdeutschland aber auch vor Ort demaskieren.

Welche Rolle kommt den Medien dabei zu?

Im Diskurs wurde lange Zeit ein bestimmtes Image des Ostens gepflegt. Manchmal hat man von diskursiver Missachtung gesprochen, also dass Journalistinnen und Journalisten die Thematik vernachlässigt oder nur aufgegriffen haben, wenn in Ostdeutschland Probleme auftraten. Es gibt natürlich auch Phänomene des „Othering“, also dass der Osten immer als das vom Westen Abweichende beschrieben wird oder die Ostdeutschen dann wahlweise als problematisch oder hilfsbedürftig dargestellt werden. Hinzu kommt, dass es nur wenige Ostdeutsche gibt, die in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit überhaupt Sichtbarkeit erlangen.

Überregionale Medien, vor allem Printmedien, werden in Ostdeutschland fast gar nicht konsumiert. In Ostdeutschland lassen sich gerade einmal 2,5 bis 4,5 Prozent der Gesamtauflage des SPIEGELs oder Der Zeit verkaufen. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass sich eine gesamtdeutsche Öffentlichkeit gar nicht so ohne weiteres herstellen lässt, auch keine ostdeutsche Teilöffentlichkeit. Es mangelt an Foren und Kommunikationsorten des Austauschs und der kritischen Selbstreflexion Ostdeutschlands. 


Das Gespräch führte Leoni Gau im Namen der UnAufgefordert.