Elia arbeitet in einem Berliner Verlag. Doch schon bald wird sich alles ändern. Denn: Sie möchte sich als Heilerin selbstständig machen.
Draußen, am Potsdamer Platz, ziehen Menschenmassen vorbei. Manche flanieren gemütlich die Leipziger Straße entlang, der Großteil rennt aufgelöst Richtung S-Bahn. Denn: Es regnet. Elia Braunert, 35 Jahre alt, sitzt entspannt in einem Sessel, in ihrer rechten Hand hält sie ihre Tasse. Sie trinkt einen großen Kaffee, lange überlegen musste sie an der Theke nicht.
Elia arbeitet in einem großen Berliner Verlag: 40-Stunden-Woche, Meetings, Projekte, Finanzpläne. Ein klassischer Bürojob eben. Doch schon bald wird sich alles ändern. Denn sie möchte sich als Heilerin selbstständig machen.
Elia sagt, sie habe schon als Mädchen eine erweiterte Wahrnehmung gehabt. Nur sei es ihr damals nicht aufgefallen, es sei Teil ihres Alltags gewesen. „Ich habe Energieflüsse gespürt”, sagt sie. Sie fühlte sich in bestimmten Räumen schon a priori unwohl, wollte raus. Im Umgang mit bestimmten Menschen hatte sie ein mulmiges Gefühl. „Die Gesellschaft hat mir früh gezeigt, dass es sowas nicht gibt, teilte mir mit: Du bildest
dir das ein.”
Sie blickt auf die Regentropfen, die langsam die Scheibe des Cafés herunterlaufen. Sie habe nie offen darüber gesprochen, über ihre Empfindlichkeiten, sie geradezu in sich begraben und versteckt. Dann änderte sich ihre Situation schlagartig. „Heute würde ich sagen, das war das Erwachen”, sagt sie. Elia war 19 Jahre alt, als ihre Mutter einen schweren Autounfall hatte und acht Tage später im Krankenhaus verstarb. Ihre Stimme zittert, während sie über diese Zeit spricht.
Der Blick nach Innen
Sie stellte sich viele Fragen: Warum passiert das ausgerechnet mir? Wie soll ich damit umgehen? Und fand die Antwort letztlich in sich selbst. Denn geschüttelt von dem Schicksalsschlag, herausgeworfen aus der Routine, spürte sie plötzlich den Moment stärker und damit das „pure Sein”, wie sie es nennt.
„Es gab nicht mehr dieses Du-weißt-was-du-zu-tun-hast”, sagt sie. Keine Routine mehr, keine endlosen Alltagsschleifen, sondern nur das Hier und Jetzt. Das Bewerten und Zweifeln endete. Draußen hat es mittlerweile aufgehört zu regnen. Eine Touristengruppe zieht auf E-Rollern vorbei, eilt zum nächsten Termin. Elia erzählt weiter von ihrem Wendepunkt: „Am Anfang hatte ich es nicht verstanden, war negativ”, sagt sie. Irgendwann habe sie gemerkt, dass sich diese Negativität nicht richtig anfühle. Sie habe sich an ihre Kindheit erinnert und sei innerlich ruhiger und bewusster geworden.
„Ich kam im Moment an”, sagt sie. Sie fing an zu meditieren, nahm sich selbst und ihr Umfeld stärker wahr. Sie merkte: „Ich fühle mich nicht allein.” Denn: Sie hatte sich selbst. Heute sagt sie: Die Meditation und der Blick nach Innen haben ihr in dieser Phase geholfen. Sie machte Yoga, besuchte Seminare, eignete sich Wissen an. Das
habe sie glücklich gemacht. Elias Leben: Kindheit, Schule, Bachelor, Master, Job
Es folgt ein VWL-Studium. Bachelor an der Humboldt-Universität, Master an der Freien Universität, Job beim Verlag. Parallel dazu liest sie sich weiter ein, übt und wird achtsamer. Sie merkt: „Diese ganze Alltagsroutine fühlt sich nicht richtig an.” Besinnt sich auf das Gelernte und lässt sich noch tiefer auf ihr Empfinden, ihre Wahrnehmung ein.
Heilerin Elia: „Ich habe immer 5G”
Während draußen die Autos vorbeiziehen, trinkt Elia ihren Kaffee. „Ich kann in den Menschen Energieblockaden sehen und auflösen, wenn ich mich auf sie einlasse”, sagt sie. Sie habe bereits hobbymäßig 15 Freunde behandelt, wie sie es nennt. „Es gefällt
ihnen und bringt ihnen etwas”, sagt sie. Elia trifft Judy, eine in der Szene bekannte Heilerin, und spricht mit ihr. Sie will wissen, wie sie ihre Berufung zum Beruf machen kann. Judy antwortet ihr: „Ich sehe noch viele Ängste bei dir, weil dir die Gesellschaft den Spiegel vorgehalten hat.” Von diesen müsse sie sich erst lösen, sich mit den Fähigkeiten zeigen.
„Du musst diesen Weg gehen, es wird sowieso passieren”, sagt sie noch. Elia beginnt, Sessions anzubieten. Sie erzählt: Erst waren es Klienten nur aus dem Freundeskreis, später kamen über Mund-zu-Mund-Propaganda neue Menschen auf sie zu. Sie kündigt
ihren Bürojob und lässt sich auf das Neue ein. „Es lief gut, das Geld kam zu mir”, sagt Elia. Eine Session läuft so ab: Die Person liegt entspannt, Elia sitzt neben ihr. Keine Buddha-Statuen oder Räucherstäbchen sind nötig. Behandelt wird im Wohnzimmer des Klienten oder in einem Zimmer, das Elia in ihrer Wohnung eingerichtet hat. Einsatzbereit sei sie immer: „Ich habe immer 5G”, sagt sie und lacht.
Was dann angeblich passiert, schildert Elia ganz genau: Vor ihrem inneren Auge sehe sie den Energiekörper des Menschen, die Aura. Und erkenne Energiestaus oder Blockaden. „Dann ist da etwas zu hell oder zu dunkel, passt nicht zusammen. Der Energiefluss ist an diesen Stellen gestört”, sagt sie. Elia mache das dann passend. Lässt es wieder fließen, wie sie es nennt. Sie nutze dafür die Matrix Energetics Methode: „Das ist ein Tool, das ich gelernt habe. Ich mache mich dann frei, bin ein Kanal”, meint sie. Die allumfassende Energie, die alles durchwebt, könne sie dann aktivieren in einem Feld um den Energiekörper. „Die Menschen verfallen dann in einen tiefen meditativen Zustand und ihre Heilungskräfte aktivieren sich dann, das bin nicht ich.”
Der bewusste Mensch: Mehr als Bankkonto und Beziehungsstatus
Manchmal komme es vor, dass die Menschen dabei einschlafen. Elia erzählt: Eine Session geht 60 bis 90 Minuten. Die Menschen nennen ihr drei Themen, die sie bewegen möchten und Elia löst dann Blockaden und Energiestaus. Gefährlich sei das nicht, versichert sie. Sie schaffe nur den Raum für die Energieflüsse. Dabei sehe sie manchmal auch Bilder wie in einem Film. „Jeder hat die Fähigkeit, sich selbst zu heilen”, sagt sie. Das mache uns letztlich auch zu besseren Menschen: „Der bessere Mensch ist meiner Auffassung nach der bewusstere Mensch”, meint Elia.
Sprich: Es sei der Mensch, der sich nicht nur mit einem Aspekt seiner selbst identifiziere, sondern der, der aus einzelnen Lebensumständen heraustreten und sich wie von weiter weg selbst betrachten könne und feststelle: „Ich bin mehr, als mein
Bankkonto und Beziehungsstatus sagen.” Dafür müsse man sich selbst mehr spüren. Das entspringe aus einem tiefen meditativen Zustand: „Man muss sich auf den Moment einlassen, es geht um Achtsamkeit. Das bringt das Mehr an Bewusstsein”, sagt Elia. Was hier am einfachsten sei? Die Beobachtung des eigenen Atems. Am besten sitzend mit geschlossenen Augen.
Bewusstere Menschen, sagt Elia, spüren sich selbst und ihr Umfeld intensiver, können leichter meditieren. „Manche Menschen haben Vorahnungen: Man denkt an jemanden und dann ruft er an ist das klassische Beispiel”, sagt sie. Es gebe weitere Formen wie luzides Träumen oder Menschen, die Gefühlslagen ihrer Mitmenschen durch reines Wahrnehmen einschätzen können. „Meditation ist der Schlüssel, um diese Fähigkeiten trainieren zu können”, sagt sie.
Im Eingangsbereich telefoniert eine junge Mutter, es wird laut im kleinen Café. Mit wissenschaftlichen Erkenntnissen zu diesem Thema hat sich Elia nicht sehr viel beschäftigt. „Für mich war es nicht notwendig: Für das was ich spüre und wahrnehme brauche ich keinen Wissenschaftler, der mir das erklärt.” Sie sieht einen Zusammenhang zwischen Stressprävention und Meditation. Achtsamkeitskurse und Yoga werden heute beispielsweise von Krankenkassen übernommen, um den Menschen Werkzeuge zur Stressreduktion an die Hand zu geben. Elia sagt: Das sei günstiger, als später die Behandlung von stressbedingten Krankheiten oder Burnouts zu bezahlen.
Beruf als Heilerin: Weg vom Büro, weg vom Alltag
Den Druck der Gesellschaft habe sie irgendwann ignoriert: „Wenn man keinen Bezug dazu hat, dann ist es noch nicht die richtige Zeit”, sagt Elia zu Kritikern. „Entweder man spürt es in sich selbst, oder es ist einfach noch nicht so weit”, ergänzt sie. Einfach raus: Weg vom Büro, weg vom Alltag.
Nach dem Einreichen der Kündigung und einigen Sessions passiert es: Judy bietet Elia an, sie professionell zur Heilerin auszubilden. Einen Monat lang, vier Tage pro Woche, sechs Stunden am Tag. Nur Judy und sie. Nur Energiearbeit, wie sie es nennt. Danach möchte sich Elia selbstständig machen, eine Webseite bauen, Visitenkarten erstellen. Um sich und ihre Arbeit breiter vorstellen zu können. Später will sie vielleicht auch zusätzlich eine heilpraktische Ausbildung machen. Von der neuen Tätigkeit als Heilerin könne sie dann auch leben. Eine Session kostet in der Branche mindestens 70 Euro, oft wird auf Spendenbasis bezahlt. Ihr Alltag wird sich ändern: Weg vom Büro, weg vom routinierten Alltag.
Sie wünscht sich eine achtsamere Gesellschaft. Ihr Appell: Die Menschen sollen einen bewussteren und liebevolleren Umgang mit sich selbst haben und damit auch miteinander. Der Alltagsstress sei unnötig: „Je mehr ich aus diesen Mustern raustrete
und mich auf mich selbst einlasse, löst sich die Anspannung”, sagt sie. Ihr persönliches Fazit: Stress ist eine Illusion. Während sie diese Worte spricht, streiten sich draußen ein Fahrrad- und ein Autofahrer. Beide hatten es wohl eilig. Fest steht: Sie haben sich nicht gegenseitig wahrgenommen. Sie waren wohl mit dem Kopf beim nächsten Termin.
Dieser Artikel ist im Dezember 2019 in der 252. Ausgabe der UnAuf erschienen (Anm. der Redaktion)