„Noch ist Polen nicht verloren“ – so heißt es in der polnischen Hymne. Doch wie denken unsere östlichen Nachbarn wirklich? Ist das Land wirklich so rechts und katholisch wie alle denken? Unser Autor macht sein Erasmus-Semester in Poznań und begibt sich auf Spurensuche
Montagmittags in der Mensa. Mit meinem Tablett in der Hand erspähe ich einen Freund und setze mich zu ihm. Wir haben uns lange nicht mehr gesehen und so kommt von ihm gleich die obligatorische Frage: „Was machst du gerade so?“ – „Ich komme vom Sprachkurs.“ – „Und welche Sprache?“ – „Polnisch.“ – „Polnisch!?“.
Ja, polnisch. Seit einem Jahr lerne ich nun schon diese verflucht schwere Sprache mit ihren zig Sch-Lauten und Sonderregeln von der Sonderregel. Immer wenn ich darüber spreche, habe ich das Gefühl, mich rechtfertigen zu müssen. Warum interessieren sich so viele nicht für Polen? Ist das Land nicht exotisch genug?
Von allen Hauptstädten der Nachbarländer Deutschlands ist Warschau die unbekannteste. Mit Paris, Kopenhagen oder Amsterdam kann jeder etwas anfangen. Doch wer kennt schon den Kulturpalast, jenen stalinistischen Klotz, der das Wahrzeichen der polnischen Hauptstadt ist?
Ich habe mich bewusst für dieses Land entschieden, denn wir sollten uns mehr für Polen interessieren. So verbindet Deutschland und Polen eine wechselvolle Geschichte: Jahrhundertelang waren große Teile des heutigen Polen deutsch. Hinzu kommen der zweite Weltkrieg und die nationalsozialistischen Verbrechen vor 80 Jahren. Doch auch die Solidarność-Bewegung, die die friedliche Revolution in der DDR beeinflusst hat, muss in der deutsch-polnischen Geschichte erwähnt werden.
Bis heute hängen beide Länder stark zusammen. Denn wir sehen es ihnen nicht an – doch die Pol*innen sind nach den Türk*innen die zweitgrößte Immigrationsgruppe in Deutschland. Immer noch kommen viele Pol*innen zum Arbeiten nach Deutschland. Wer bei sich im Freundeskreis oder unter den Kommiliton*innen fragt, wird garantiert irgendjemanden finden, der*die zumindest einen polnischen Elternteil hat.
Der Kampf für die Verfassung
Besonders in der jetzigen Zeit gilt es, den Fokus auf die polnische Gesellschaft zu richten. Denn vor drei Jahren kam hier eine rechtspolitische Regierung unter der Partei Recht und Gerechtigkeit an die Macht – trotz des zunehmenden wirtschaftlichen Aufschwungs. Diese höhlt nach und nach die demokratischen Grundprinzipien des polnischen Staates und die Errungenschaften der Solidarność-Bewegung aus. So werden kritische Richter entlassen, unabhängige Medien eingeschränkt und die Rechte von Minderheiten immer mehr beschnitten.
Wenn ich heute im weltoffenen Warschau mit Leuten spreche, sagen mir viele, dass sie immer besorgter in die Zukunft ihres Landes sehen – gerade in Hinblick auf die Parlamentswahlen im Herbst. Denn die aktuelle Regierung hat gute Chancen, wiedergewählt zu werden.
Doch Polen ist nicht nur die PiS. Immer wieder gehen Menschen auf die Straße, um gegen die Regierung zu demonstrieren und Lech Wałęsa, das Gesicht von Solidarność, zeigt sich häufig in einem T-Shirt mit der Aufschrift Konstytucja (Verfassung). Es mag für uns Deutsche komisch klingen, doch sie alle eint ein Motto, das zugleich die erste Zeile der polnischen Nationalhymne ist: „Noch ist Polen nicht verloren.“
Foto: Erik Witsoe