Zwischen Auslandsstudium in Nairobi und Praktikum in Brüssel ist unser Kulturredakteur Justus Jansen für vier Wochen in Berlin – da darf natürlich auch die Kultur nicht fehlen. In einer Sonderausgabe der Kulturkolumne schildert Justus seine Erfahrungen.

Während ich im fernen Nairobi weile, bin ich gesegnet mit einer unendlichen Zahl neuer Eindrücke. Ich bin gesegnet, mit Begegnungen, die meine Liebe zu Kenia wachsen lassen, und es vergeht kein Tag, an dem ich nicht noch mehr ,,Staunender‘‘ werde. Was eine reiche Kultur ich dort habe erleben dürfen, die so anders und doch so ähnlich war, in ihrer Fähigkeit, die großen Fragen des Lebens zu stellen und vor allem – der wir so Unrecht tun, indem wir sie so schlecht kennen. Nach meiner Rückkehr ins geliebte Berlin möchte ich mir die Berliner Kulturlandschaft einmal mehr zur Brust nehmen. Ich möchte mit einem neuen und strengen Blick auf die Dinge schauen, nicht gleich in den Hymnus zu verfallen, den ich in der Vergangenheit so oft angestimmt habe. Wird das gelingen?

Eine Stadt mit drei Opernhäusern! Das ist doch was.

Immer, wenn es in Gesprächen und Diskussionen um Kultur geht, finde ich mindestens eine Gelegenheit zu erwähnen, dass Berlin,, neben Moskau und St. Petersburg ist, über mehrere Opernhäuser verfügt. Und so möchte ich im Januar auch alle drei Häuser der Hauptstadt besuchen.

In die Deutsche Oper komme ich voller Vorfreude. Die Oper ,,Fidelio‘‘ von Beethoven steht auf dem Programm und ich wollte dieses Werk schon immer einmal sehen. Ich komme aber auch ein bisschen nach Hause. Ich kenne die Damen und Herren am Einlass, kenne die geheimen Aufzüge und weiß, wo an der Garderobe man seine Jacke abhängt, um am Ende wieder schnell von dannen ziehen zu können. Ich erinnere mich an den Herheim-Ring, den ich hier vor eineinhalb Jahren erleben durfte und an die Tränen, die ich beim Tannhäuser im vergangenen Frühsommer verdrückt habe. Doch eigentlich geht es um das Werk des Abends. Im Oktober vergangenen Jahres hat die Inszenierung von David Hermann in Charlottenburg Premiere gehabt und neben der über weite Strecken glanzvollen Leistung des Orchesters (einige unglückliche Patzer in der Ouvertüre) überzeugt auch die Inszenierung und das Bühnenbild. Ein Werk voll von Humanismus, voll von den Idealen der Französischen Revolution. Die Liebe eines Menschen zu einem anderen Menschen befreit aus der Gefangenschaft. Ideen, die mich beflügeln.

In die Komische Oper komme ich voller Nostalgie. Immerhin steht heute jene Oper auf dem Programm, die vor Jahren meine erste war: die Zauberflöte von Mozart. Als Sechsjähriger im Stadttheater meiner Vaterstadt Krefeld habe ich zu den Klängen des Vogelfängerliedes meine Liebe zur Oper entdeckt. Würde ich ohne die Zauberflöte heute hier sitzen, ja diese Zeilen schreiben? Wie so oft ist der Besuch in der Komischen Oper ein Fest, was nicht nur an den Pralinen liegt, die man beim Hinausflanieren nach dem Ende des Stückes bekommt. Es ist auch die Inszenierung von Barry Kosky, die mich begeistert. Natürlich Kosky! Kein anderer Regisseur unserer Zeit versteht es, die schweren Opernstoffe derartig mit Leichtigkeit zu füllen, für Lachen zu sorgen, wo man es nicht erwarten würde und trotzdem bei all dem kein bisschen an Tiefgang einzubüßen. So auch hier. Kosky inszeniert die Zauberflöte im Stil der 20er Jahre: viele Dialoge werden wie im Stummfilm einfach eingeblendet, was dazu führt, dass sich der Abend auf angenehme zwei Stunden verkürzt. ie Darsteller*innen bewegen sich immer wieder Chaplin’esque oder wie Stummfilmschauspieler übertrieben rennend, expressiv agierend. Dazu die herrlich-leichte Musik Mozarts‘, die das Orchester der Komischen Oper einwandfrei vorzubringen weiß. Also: einer dieser gelungenen Opernabende, nach denen man beschwingt nach Hause geht und dabei trotzdem ins Gespräch kommt über die Fragen, die die Inszenierung gestellt hat.

Dominik Körniger (Papageno), Foto: Iko Freese /drama-berlin.de
Dominik Körniger (Papageno), Foto: Iko Freese /drama-berlin.de

Einer dieser gelungenen Opernabende

In die Staatsoper komme ich voller Aufregung. Es sind nicht nur die heiligen Hallen der Staatsoper, die man ob der hohen Ticketpreise als Student*in so selten betritt, sondern auch der Umstand, dass ich heute zum ersten Mal in meinem Leben im Ballett bin. Meine Begleiterin erklärt mir, dass Balletttänzer ihre Ballerinas in der Mitte zerbrechen, um besser darin tanzen zu können. Die Bühne der Staatsoper selbst ist an diesem Abend Heimstätte des Staatsballetts Berlin, das Tschaikowskis‘ ,,Schwanensee‘‘ tanzt. Mich beeindruckt das prachtvolle Bühnenbild und ich höre meinen Sitznachbarn fragen: ,,So üppig! Darf man das überhaupt noch?‘‘ – Ja, man darf es und eingesetzt zum rechten Zeitpunkt und im rechten Kontext hat ein so fürstliches Bühnenbild eine herrliche Wirkung. Hier wird das gesamte Ballett in einem Gewächshaus aufgeführt, das in seiner Gestaltung vor Jugendstil nur so strotzt und mit den prächtigen Kostümen des Ensembles wetteifert. In völliger Abwesenheit der Sprache – eine ganz neue, tiefgehende Rührung, die mich noch tagelang beschäftigt.

Mein Berliner Januar endet im Berliner Ensemble, im Theater, das mir von allen am Liebsten ist. Das Schönste: die Liebe ist nicht einseitig. Als an der Garderobe der entscheidende Groschen fehlt, lächelt mich die Garderobiere an und bietet mir an, ich könne bei ihr anschreiben. ,,Du bist doch eh mehrmals die Woche hier!‘‘ – Nun, Unrecht hat sie damit nicht. Dass ich so häufig im Berliner Ensemble bin, liegt aber nicht nur an den freundlichen Garderobieren, sondern auch daran, dass hier mit einer fast beängstigenden Kontinuität gutes Theater geboten wird. Womöglich nicht immer so experimentell wie anderswo, aber stets ohne große Enttäuschungen. Wenn ich an das Berliner Ensemble denke, kommen mir die Klagelieder über die schlechte Qualität des zeitgenössischen Theaters überzogen und lachhaft vor. Die neue Produktion frei nach ,,Iwanow‘‘ von Tschechow, die ich mir an diesem Abend zu Gemüte führe, ist mal wieder ein Beispiel für die hervorragende Theaterarbeit, die am Schiffbauerdamm geleistet wird. Yana Ross nimmt sich den alten Tschechow-Stoff zur Brust, analysiert ihn auf seine grundsätzlichen Fragestellungen und Konstellationen und versetzt ihn in eine Gegenwart, die so vielen Berlinern bekannt sein dürfte: die mittelmäßige deutsche Kleinstadt, der Tennisclub, die Kleinbürger.

Streng wollte ich sein mit meiner Kritik, mit einer neuen Perspektive auf die Dinge blicken – und doch bin ich dem Zauber der Berliner Kulturlandschaft eigentlich wieder verfallen. ,,Die Höflichkeit des Kritikers ist seine Deutlichkeit.‘‘, sagt Marcel Reich-Ranicki. Mit großer Freude würde ich wie er verdammen, verteufeln, verreißen – allein, ich kann es nicht, ohne ins Fiktionale abzugleiten. Fehlt mir ein kritisches Bewusstsein? Bin ich zu beduselt von dem, was in der Hauptstadt geboten wird? Ich glaube nicht. Meine höfliche Deutlichkeit bleibt jene, mit der ich sage: Die Kulturszene Berlins ist ein Geschenk, das man nicht genug besingen kann.


Foto: Matthias Horn