Mehr als 90.000 Gedenksteine erinnern an die Opfer des Nationalsozialismus in Deutschland. Allein in Berlin sind es über 10.000. Doch in den wenigsten Fällen können der Name und der Jahrgang die ganze Lebensgeschichte einer Person zusammenfassen. Die App Stolpersteine” erzählt die Geschichten hinter den Namen. 

Als der Künstler Gunter Demnig im Jahr 1992 anfing, die ersten Stolpersteine in Deutschland zu verlegen, verfolgte er eine Absicht, die oft übersehen wird. Um sich die Namen auf den Gedenktafeln durchzulesen, muss man sich bücken, was für den Künstler einer demütigen Verbeugung der Deutschen vor den Opfern des Nationalsozialismus gleichkommt. Damit kämpfte Demnig gegen das Vergessen an. Doch vor allem im schnelllebigen Berlin nehmen sich die wenigsten die Zeit, um die Namen auf den Messingtafeln auf sich wirken zu lassen. Vielleicht liegt das auch daran, dass selbst die insgesamt über 90.000 Steine in keinem Verhältnis zu den mehr als 6 Millionen Opfern des NS-Regime stehen. Oder, dass in den wenigsten Fällen der Lebenslauf einer Person am Namen abgelesen werden kann- wie das auch bei Grabsteinen der Fall ist. 

Mit Hilfe der App Stolpersteine ist das mittlerweile möglich. Mit der Handykamera können Stolpersteine gescannt und in den meisten Fällen so die Lebensläufe der verstorbenen Personen abgerufen werden. Zudem kann über eine Landkarte eingesehen werden, wo sich Stolpersteine in der Nähe befinden. Auch die Biographien der Verstorbenen können, sofern vorhanden, gespeichert werden. 

Die Geschichten hinter den Namen

Vor dem Hauptgebäude der Humboldt Universität finden sich 20 Messingplatten. Verlegt wurden sie im Jahr 2010 und sollen nicht nur an ein dunkles Kapitel in der Geschichte der HU erinnern, sondern auch an die jüdischen Student*innen Elise Unger, Herta Selbiger, Alice Markiewicz, Cacilie Springer, Margot Rosenthal, Hans Lowenthal, Hilde Ottenheimer, Manfred Litten, Herbert Katz, Ruth Jacobsohn, Ernst Horwitz, Walter Herz, Martin Hammerschmidt, Ernst Grunspach, Alfred Goldstaub, Heinrich Gabel, Walter Brock, Herbert Brinitzer, Marion Beutler und Max Bayer. Nur von 15 Personen konnten die Biographien rekonstruiert werden. Die anderen fünf Student*innen haben auf „Universitätslisten“ Spuren ihrer Existenz hinterlassen. Aufgrund der jüdischen Identität wurden die meisten von ihnen während ihres Studiums exmatrikuliert oder konnten es nur mit Sondererlaubnis beenden. Sie alle fanden den Tod in Ghettos, in Konzentrations-, Vernichtungs- oder Internierungslagern, Tötungsanstalten oder wählten den Freitod.

Hier lernte…

Von den Lebensläufen, die durch sorgfältige Archivarbeit im Rahmen des Projekts “Stolpersteine”  (2009/2010) in die Gegenwart eingeholt werden konnten, möchte ich die Biographien von Max Bayer und Ruth Rosa Jacobsohn hervorheben. 

Max Bayer (1906-1943) wurde in Bayern geboren. Er war Student an der Philosophischen Fakultät der HU (damals noch Friedrich-Wilhelms-Universität genannt). Während seines Studiums arbeitete er an der Israelischen Taubstummen-Anstalt. Da im Nationalsozialismus Menschen mit Behinderungen ausgegrenzt und staatliche Unterstützungen für sie reduziert und gestrichen wurden, war auch diese Institution davon betroffen. Trotzdem betreute er noch bis 1940 als einer der einzigen Lehrer die restlichen Schüler*innen. Am 17. Mai 1943 wurden er und seine Familie, bestehend aus seiner Frau Gisela und der fünf Monate alten Tochter Reha, von Berlin nach Auschwitz deportiert und ermordet. 

Die Medizinstudentin Ruth Rosa Jacobsohn (1912-1942) kam in Berlin auf die Welt. Ihr Studium begann sie 1931 und obwohl sie das Physikum erreichte, zwangen die Nationalsozialisten sie und damit andere jüdische Studierende dazu, ihr Studium abzubrechen. Aufgrund des Einsatzes ihres Vaters als Frontsoldat im Ersten Weltkrieg konnte sie ihr Studium in Leipzig fortsetzen, doch das Abschlussexamen durfte sie letztlich nicht ablegen.  Jacobsohn kehrte zurück nach Berlin, um bis kurz vor ihrer Deportation als ungelernte Krankenschwester am Jüdischen Krankenhaus in der Iranischen Straße zu arbeiten. Nach Angabe von Ruth Israelski, einer Bekannten der Familie Jacobsohn, soll sie vor ihrer Deportation noch ihre medizinischen Instrumente mit einer Gürtel um ihre Taille gebunden haben in der Hoffnung, ihren Beruf nach der Deportation wieder ausüben zu können

Biographische Zugänge in der Erinnerungsarbeit

Die Gedenktafeln legen die Schicksäle der ehemaligen jüdischen Student*innen wortwörtlich den Passant*innen vor die Füße, doch im schlimmsten Fall werden sie durch Unachtsamkeit übertreten– eine Kritik, die vermehrt von der jüdischen Gemeinde aufkommt. Denn oft genug liegen sie begraben zwischen Zigarettenstummeln und verstecken sich zwischen den Pflastersteinen. Wie auch im Fall der Gedenktafeln der Familie Weissbart und Witwe Meta Schlesinger, die vor ihrer Deportation nach Riga in der mittlerweile sehr belebten Karl-Marx-Straße wohnhaft waren.  

Hier wohnte…

Trotzdem ist es wichtig, dass diese Gedenktafeln verlegt wurden und weiterhin verlegt werden. Sie sind nicht nur das weltweit größte dezentrale Mahnmal, das an die Opfer der NS-Zeit erinnert, sondern sie verschaffen gleichzeitig den Angehörigen einen Ort der Trauer und geben den Opfern ihre Namen zurück. Zudem ermöglichen sie eine Entgrenzung der Erinnerungsarbeit und halten Erinnerungen lebendig, materialisieren sie und machen sie so zu einem Teil unserer Lebenswelt. 

Mittlerweile nutzen auch Berliner Grundschulen die Stolpersteine App im Geschichtsunterricht und zeigen, dass der Bürgersteig als Erinnerungsort viel besser taugen kann als das Geschichtsbuch. Und illustrieren auf eindrücklichste Art den Nutzen von biographischen Zugängen in der Erinnerungsarbeit. 

Dabei ist es wichtig, dass auch im Zuge dieser Erinnerungsarbeit jüdische Deutsche nicht als bloße Opfer des Nationalsozialismus dargestellt werden. Das würde der Vielfalt jüdischen Lebens nicht gerecht werden. Denn anders gewendet zeigen Stolpersteine, wie sie vor allem das Leben in der Stadt Berlin mitgeprägt haben und wie viele Spuren sie hinterlassen haben. Spuren, die gewürdigt werden sollten. 


Illustration: Céline Bengi Bolkan

Fotos: Büsra Koc