Die jährlich bemühten Floskeln, die Stolpersteine auf dem Bürgersteig, die steinernen Stelen des Holocaust-Mahnmals in Berlin: die einen ruhen sich auf ihnen aus, die anderen stolpern über sie. Doch der Weg, den sie pflastern, ist weiterhin zu gehen.

 

Es war an einem Wintertag. Die kleinen Steinquader ragten aus der Außenmauer des jüdischen Friedhofs. Alle trugen den Namen einer jüdischen Person, die von den Nationalsozialisten in der Shoah ermordet wurde. Nach jüdischer Tradition lagen auf manchen von ihnen Kieselsteine. Wir besuchten die Gedenkstätte Neuer Börneplatz in Frankfurt für ein Schulprojekt. Eine Freundin und ich sollten mit jüdischen Schüler*innen ein Interview über die Shoah, Antisemitismus und Verantwortung führen. Die Fragen, die wir vorbereitet hatten, fanden wir viel zu persönlich. Wir stellten sie nicht, tauschten Schulbuchwissen aus. Ich tat betroffen, weil ich gelernt hatte, dass sich das bei diesen Themen so gehörte. Ich wusste nicht, dass betroffen zu tun etwas anderes ist, als berührt zu sein.

Die Aufgabe des „Nie wieder!“

„Antisemitismus passt nicht in einen festen Rahmen“, sagt Dr. Ofer Waldman, ehemaliger Orchestermusiker, heutiger Historiker und Journalist aus Israel. „Das Problem des Antisemitismus ist älter als jede Definition, älter als der aktuelle gesellschaftliche Zustand in Deutschland, älter als der Holocaust.“ Jüdisches Leben ist fest in der Geschichte Deutschlands verwurzelt, und mit ihm der Antisemitismus. Die Shoah jedoch ließ die Deutschen eine besondere Verantwortung gegenüber Jüdinnen und Juden übernehmen. Diese Verantwortung umfasst laut Bundespräsident Steinmeier nicht nur „das Gedenken an die Opfer der Shoah“, sondern „übersetzt sich für die Zukunft in ein ‚Nie wieder!‘“ Der Satz wird repetiert, meist jedoch als Lippenbekenntnis und gebetsmühlenartig: Die Aufgabe, die sich aus ihm ergibt, verstehen die wenigsten, und wer es tut, will sie nicht übernehmen. Sie ist heikel und erfordert Mut. Sie vor den kritischen Augen der Weltöffentlichkeit anzugehen, macht sie nicht leichter. Während die Debatte um Erinnerung und Verantwortung stagniert, steigt die Zahl antisemitischer Straftaten seit Jahren – und mit ihr die Dringlichkeit der Erkenntnis: Sollen Gewaltverbrechen, die mit denen der Nazis vergleichbar sind, in der Zukunft „Nie wieder“ begangen werden, müssen sich Gedenken und Verantwortung weiterentwickeln.

 

Eine Leistung für die Gesellschaft

„Die Erinnerungskultur ist keine Leistung für das jüdische Volk, sondern eine für die Gesellschaft selbst“, sagt Ofer Waldman. „Weil sie für die Gesellschaft ist, soll sie auch durch sie gestaltet werden und sich mit ihr verändern.“ Die deutsche Gesellschaft hat sich seit der Shoah stark verändert, es leben immer mehr Menschen darin, die keinen direkten, familienbiographischen Bezug zu Auschwitz haben. Das Gedenken an die Shoah darf jedoch nicht denen vorbehalten bleiben, die „einen Opa in Auschwitz, entweder auf dem Wachturm oder in der Baracke“ haben, sagt Waldman. Die Auseinandersetzung mit der Shoah bildet einen Kern der Identität der Bundesrepublik und die Grundlage ihrer Gesellschaft. Die Debatte um die Shoah und ihre Lehren muss deshalb allen in Deutschland lebenden Menschen offenstehen und ihnen die Möglichkeit geben, sie mitzugestalten.

Nicht nur muss aber der Kreis der Menschen, von denen die Erinnerung ausgeht, erweitert werden, sondern auch der Kreis derer, dem ihre Konsequenzen zuteilwerden. „Die Shoah ist ein deutsches Verbrechen gegen Jüdinnen und Juden, aber sie ist auch ein menschliches Verbrechen gegen Menschen.“, sagt Ofer Waldman. „Aus beiden Verständnissen sind Maximen abzuleiten.“ Die Verantwortung Deutschlands umfasst nicht nur die Benennung und Bekämpfung von Antisemitismus, sondern ein Vorgehen gegen alle Formen von Rassismus und Menschenfeindlichkeit. „Die Lehren aus der Shoah sind nicht auf das deutsch-jüdische Verhältnis beschränkt – sie sind all-menschlich. Wir müssen sie implementieren, wenn wir auf Aleppo schauen, wenn wir auf die EU-Südgrenze schauen, wenn wir in die Ukraine schauen. Sie gelten auch in Bezug auf Israel.“

 

„Mit Schweigen entzieht sich die deutsche Gesellschaft ihrer Verantwortung“

Seit Wochen wird Israel von Massenprotesten zugleich bewegt und gelähmt. Sie richten sich gegen eine Justizreform, die es der einfachen Mehrheit im Parlament, sprich der Regierung, ermöglichen würde, Entscheidungen des Obersten Gerichts aufzuheben und selbst das letzte Wort zu sprechen. Dass eine solche Reform ausgerechnet von einer Regierung durchgeboxt wird, in der Minister und ein Ministerpräsident vertreten sind, die wegen Rassismus verurteilt beziehungsweise wegen Korruption angeklagt sind, scheint suspekt. Die israelische Regierung setzt nach Ansicht vieler nicht nur die demokratische Regierungsform Israels aufs Spiel, sondern auch jeden Zusammenhalt der heterogenen israelischen Gesellschaft und ihr Verhältnis zu den Palästinenser*innen.

In der deutschen Politik herrscht dazu weitgehend Schweigen, wohl auch aus Furcht, dass jede Kritik zu Vorwürfen von Pflichtvergessenheit führen würde. In Wahrheit ist es genau umgekehrt: „Damit, ein notwendiges Gespräch über Israel zu verweigern, entzieht sich die deutsche Gesellschaft ihrer Verantwortung“, sagt Ofer Waldman. „Jetzt wäre genau der richtige Zeitpunkt, die israelische Zivilgesellschaft zu unterstützen und sich mit ihr zu solidarisieren. Es ist der Zeitpunkt, um zu beweisen, wie gut es um die deutsch-israelische Freundschaft steht.“

 

Menschen als der Ausgangs- und Endpunkt

Es war im Spätsommer. Die Quader ragten aus dem Boden, die Kontraste zwischen Licht und Schatten waren hier besonders extrem. Ich kam mit einem israelischen Freund zum Holocaust-Mahnmal in Berlin. Wir gingen einzeln durch das Stelenfeld. Ich tat betroffen, spürte aber kaum etwas. Ich war schon oft hier gewesen. Auf der anderen Seite des Denkmals wartete ich auf ihn. Als er mir entgegenkam, spiegelten sich in seinem Gesicht Emotionen, auf die ich nicht vorbereitet war, in seinen Augen Tränen. Wir umarmten uns. Diese Berührung ließ mich mehr verstehen als alle Zahlen und Fakten, die ich aus meinem Geschichtsbuch kannte.

Der Ausgangs- und Endpunkt der Erinnerung und Verantwortung sind Menschen. Deshalb muss Erinnerung auf menschliche Erfahrungen gestützt und lebendig sein. Nur dann entsteht ein Gefühl der Betroffenheit und der Verantwortung zur Menschlichkeit, allen Menschen gegenüber. Bestrebungen, die Erinnerungskultur so zu entwickeln, werden sicher nicht ohne Kritik, auch aus dem Ausland, bleiben. Doch es ist genau der Kern der Verantwortung, auch bei Gegenwind, mutig für seine Grundwerte, für Menschlichkeit, einzustehen.

Ich gehe noch einmal zum Holocaust-Mahnmal in Berlin. Es ist einer dieser schneidend schönen Wintertage. Besucher springen von Stele zu Stele, sitzen darauf, lächeln in Kameras. Der Security-Mann bittet nur diejenigen, die auf den Stelen springen, aufzuhören. Als ich ihn nach denjenigen frage, die darauf sitzen oder sich fotografieren, sagt er, er sei nur ein Mitarbeiter.

Von der Baustelle neben meinem Haus habe ich einen kleinen Kieselstein mitgebracht. Ich lege ihn auf einen der Stelen. Ein Versuch der Erinnerung. Ein Versuch der Verantwortung.

 

Foto: Elisabeth Helena Knetsch

 


Illustration: Céline Bengi Bolkan