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Sprachkritik: Doppelmoral

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Ein Aktivist klebt sich für den Klimaschutz auf die Straße und fliegt danach nach Thailand. Unmittelbar folgt der Vorwurf der Doppelmoral, doch wider Erwarten liegt diese hier gar nicht vor.

Die Zeitungen waren tagelang voll davon, als ein Aktivist der Letzten Generation – der zivilen Ungehorsam für politischen Klimaschutz übt – seinen Gerichtstermin verpasst hat, weil er mit seiner Freundin nach Thailand geflogen ist. Der empörte Aufschrei kam im selben Atemzug wie der Vorwurf der Doppelmoral.

Das Thema verschwand so schnell in der Tiefe, wie es aufgekommen war. Und so stellt sich intuitiv die Frage, wieso ich es hier noch einmal aufgreife.

Darauf gibt es eine einfache Antwort: Das Beispiel mag schon wieder veraltet sein, aber der Vorwurf der Doppelmoral gegenüber Klimaakivist*innen scheint so alt wie deren Aktivismus selbst. Um den Vorwurf zu entkräften, eignet sich dieses symbolträchtige Beispiel hervorragend, welches zunächst doch eindeutig verwerflich scheint.

Doch was ist Doppelmoral überhaupt? Als guter Journalist frage ich Google, das mir folgende Definition von Wikipedia mitteilt: „Haltung von Personen, bei denen die bekundeten moralischen Vorstellungen im Widerspruch zum tatsächlichen Verhalten stehen.“

Wir gehen bei dem Aktivisten von Doppelmoral aus, weil wir ihm unterstellen, dass er uns durch seinen Aktivismus („sich auf die Straße kleben“) moralisch verurteilt. Wenn er sich für den Klimaschutz einsetzt und wir um unser eigenes klimaschädliches Verhalten wissen, dann fühlen wir uns von seiner Forderung direkt in unserem Verhalten angegriffen. So können wir beispielsweise Flugscham entwickeln oder ein schlechtes Gewissen bekommen, wenn wir Auto fahren oder Fleisch essen. Wenn er jetzt das gleiche klimaschädliche Verhalten an den Tag legt, in dem er fliegt, dann dürften wir ihm zurecht vorwerfen „zweierlei Maßstäbe anzulegen“, kurz: Doppelmoral.

Politische Forderungen statt individueller Verurteilung

Doch was, wenn diese moralische Verurteilung, die wir ihm unterstellen, nur ein Hirngespinst ist, das er niemals so formuliert hat? Natürlich: der Verdacht darauf äußert sich schneller, wenn jemand mich direkt im Straßenverkehr behindert, als wenn die Person ihren Aktivismus an die Politik richtet. Aber nach kurzer Auseinandersetzung mit den Forderungen der Letzten Generation fällt dieses Luftschloss in sich zusammen. Die Forderungen, wie ein Tempolimit oder ein 9€-Ticket, richten sich nämlich ausschließlich an die Politik und der zivile Ungehorsam dient lediglich dazu, Aufmerksamkeit auf die Forderungen und die mangelhafte Klimapolitik zu lenken.

Es würde sich hier in der Tat um Doppelmoral handeln, wenn ein*e Aktivist*in sich im Stau über andere Aktivist*innen beschweren würde, wenn ein*e Aktivist*in jemanden persönlich moralisch verurteilt, ohne sich dementsprechend zu verhalten, oder wenn ein*e Aktivist*in sich für ein Tempolimit einsetzt, sich dann aber nach dessen Einführung ärgert, weil sie nicht länger wie gewohnt rasen kann.

Im Gegensatz dazu ist es aber vollkommen legitim und geradezu rational, zu wissen, dass wir gesellschaftliche Mammutaufgaben wie Klimaschutz nur durch politische Lösungen erreichen können und individuelle Verurteilungen uns lediglich davon ablenken und so den eigentlichen Klimasündern, den großen Konzernen, in die Hände spielen. So wurde auch der CO2-Fußabdruck von Ölkonzernen groß gemacht, um von den eigentlichen Ursachen abzulenken. 2004 veröffentlichte der Ölkonzern BP einen “Carbon-Footprint” Rechner, was zunächst widersprüchlich wirkt. Es ergibt aber Sinn, sobald wir verstehen, dass die Individualisierung von gesellschaftlichen Problemen gerade solchen Unternehmen nützt, indem es sie vor politischer Regulierung schützt.

„Kein richtiges Leben im falschen.“

Einmal mehr Zeit sich an Adornos Ausspruch: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ zu erinnern, denn wir sollten nicht unsere ganze Energie dafür verausgaben, in einem klimazerstörenden System individuell klimaschützend zu handeln. Vielmehr sollten wir ein System erschaffen, was es uns erleichtert, gute, klimaschonende Entscheidungen zu treffen.

Das heißt nicht, dass wir uns in unserem individuellen Verhalten dem Fatalismus hingeben und uns mit Ausreden aus der Verantwortung stehlen sollen, aber es ist weitaus weniger wichtig als häufig angenommen, und der Fokus darauf kann sogar gänzlich kontraproduktiv wirken, indem er politischen Wandel sabotiert. Eine moralische Verpflichtung gebietet somit eher, sich politisch oder aktivistisch zu engagieren, als sein persönliches Verhalten radikal anzupassen. So können dann nämlich auch jene Konzerne politisch reguliert werden, die zum Ziel haben, jede Verantwortung beim Klimaschutz auf das Individuum abzuwälzen.

Auch die Letzte Generation ist souverän mit der Situation umgegangen und twitterte am 20.02.2023 kurzerhand: „Aber falls irgendein Zweifel bestand, ob Menschen, die Fleisch essen, Auto fahren oder Langstreckenflüge machen, mit uns gegen den Verfassungsbruch der Regierung auf die Straße gehen können, dann möchten wir den hiermit ausräumen: Ja!“.

 


Illustration: Céline Bengi Bolkan