Holger Walther (1960) ist Diplom-Psychologe und Psychotherapeut. Bei der Psychologischen Beratung der Humboldt-Universität zu Berlin ist er schon seit Beginn an dabei. Im Gespräch mit der UnAuf erzählt er, warum Student*innen mit psychischem Druck konfrontiert sind und wie sie damit umgehen können.

UnAuf: Das Wort „Mental Load fällt viel unter Student*innen. Was ist das und wie trägt er zu ihrem psychischen Druck bei?

Holger Walther: Mental Load war ursprünglich positiv besetzt. Inzwischen ist er aber anders konnotiert, weil er in einem Kontext benutzt wird, der beschreibt, wie viel etwas ist. Student*innen nutzen den Begriff oft im Kontext von Kursen mit hohem Aufwand, die in Summe mit anderen, ähnlich arbeitslastigen Kursen überfordernd sind. Wäre das nur in einem Kurs der Fall, wäre das tragbar. Aber die Kombination mehrerer solcher Kurse führt dazu, dass Student*innen an ihre Kapazitätsgrenzen geraten. Sie können sich den einzelnen Dingen dann nicht mehr so widmen, wie sie das möchten oder müssten. So entsteht zuerst Stress und in einem zweiten Schritt Druck.

Ist der Mental Load denn der Hauptgrund, wie Stress und Druck entstehen?

Das muss nicht sein. Das kann wirklich sehr individuell und vielfältig sein und ist sehr situationsabhängig. Es geht nicht um ein einzelnes Konzept wie den Mental Load, sondern die Kombination verschiedener Elemente spielt hier mit. Mögliche Komponenten dessen sind ausgesprochene Erwartungen, z.B. durch die Eltern, oder aber die subjektiv angenommenen Erwartungen. Nimmt ein*e Student*in den von außen gerichteten Druck wahr, kann dieser durch Nachfrage geprüft werden. Ein solcher Realitätscheck hilft. Das Bedürfnis, sich den Erwartungen entsprechend anzupassen, kann Druck erzeugen. Dieses Bedürfnis folgt durch die soziale Eingebundenheit von Menschen. Denn Menschen sehnen sich nach Zugehörigkeit.

Wird der Druck in der Regel von Außenstehenden erzeugt oder ist er internalisiert?

Der subjektive Druck, wie etwas erlebt wird und welchen Ansprüchen man genügen möchte, spielt hier ebenso mit rein. Es gibt immer beide Komponenten: Druck kann von außen kommen, sozusagen von der Gesellschaft und der Peergroup, aber er kann auch selbst erzeugt sein. Dieser Konflikt, inwiefern man sich von der Gesellschaft loslösen kann, existiert fortwährend. Nur ist er bei jungen Menschen in der Entwicklungsphase meist stärker ausgeprägt.

Wie kann mit subjektivem Druck umgegangen werden?

Bei internalisiertem Druck ist es wichtig zu reflektieren, wo dieser herkommt und ob gewisse Verhaltensmuster, die dazu führen, beibehalten werden sollen. In der Psychotherapie werden diese stark hinterfragt. Bei Student*innen ergibt sich dieses Phänomen oft, weil bis zum dreißigsten Lebensjahr die Möglichkeit besteht, die Persönlichkeit zu formen. Nach einem gewissen Alter festigt sich die Persönlichkeit stärker. Aber das ist auch richtig so, um das Selbst zu kennen.

Der Peergroup entsprechen zu wollen und diesem Druck gerecht zu werden, spüren junge Menschen entwicklungstechnisch stärker. Hört sich das nicht nach Fear Of Missing Out (FOMO) an?

Wir sind sozialen Einflüssen ausgesetzt. Durch die sozialen Medien ist heute alles zeitlich und räumlich zugänglicher geworden. Dadurch entsteht eher das Gefühl, dass man all das auf Social Media Entdeckte auch selbst erleben muss, um der Peergroup nachzukommen. Der Druck, etwas auszuprobieren, was alle anderen gut finden, entsteht heute einfacher und stärker. Da hilft es, zu sich selbst zu stehen und darauf zu vertrauen, dass man als Person einen eigenen Geschmack und eigene Vorlieben hat. 

Social Media ist also nicht unschuldig am Aufbau von Druck bei jungen Leuten?

Nein, im Gegenteil. Dadurch, dass alles zugänglich ist und von allen bewertet wird, wird uns ständig vor Augen geführt, welche Möglichkeiten existieren. Deshalb kann es gut sein, etwas Neues auszuprobieren, ohne sich auf Social Media zu erkunden und umzuschauen. Etwas Spontanität hilft, sich nicht dem Druck hinzugeben. Lassen Sie sich spontan von einem Angebot von Freunden leiten. Das braucht etwas Offenheit, Neugierde und vielleicht auch etwas Mut, um Dinge anders zu machen, die nicht den Erwartungen entsprechen. Entscheidungen müssen aber nicht bis ins letzte Detail optimiert werden. Die wichtigsten Grundkriterien können dafür ausreichend sein. Lassen Sie sich vom Rest ruhig überraschen, das bildet einen Gegenpol zu FOMO und solche Experimente helfen der Entwicklung.

Wie kann eine Entscheidung gefällt werden, wenn FOMO von der Peergroup ausgeht?

Es kann gut sein, sich jemandem anzuschließen, um etwas Neues zu erleben. Aber das heißt nicht, dass man immer alles mitmachen muss, was die Freundesgruppe bzw. Peergroup vorhat. Jede*r kann sich hier getrost auf die eigenen Instinkte und das Bauchgefühl verlassen. Es hilft abzuwägen, ob eine Veranstaltung zu einem passt und wenn nicht, ob man etwas Neues ausprobieren möchte. Ein passender Vergleich wäre die Speisekarte im Restaurant: Es gibt sehr viele leckere Gerichte auf der Karte, aber am Ende mag ich nur ein Gericht essen. Die Entscheidung fälle ich idealerweise auf der Basis meines persönlichen Geschmacks. Dazu ist eine gewisse Frustrationstoleranz nötig. Denn das bedeutet, dass ich heute alle anderen Gerichte nicht ausprobieren kann. Das ist aber in Ordnung! Denn es geht darum, dass ich das Wahlgericht genießen kann. Die anderen Gerichte kann ich gegebenenfalls zu einem anderen Zeitpunkt bewerten.

Wird die Frustrationstoleranz der Student*innen in einer Stadt wie Berlin besonders auf die Probe gestellt?

Das Problem der unendlichen Auswahl ist insbesondere in Berlin sehr groß, weil hier so viel Angebot besteht. Irgendetwas wird immer verpasst. Mit dem Alter und der Erfahrung wird es aber leichter, auf Sachen zu verzichten. Es stellt sich immer die Frage, inwiefern ich mich an etwas oder jemanden anpasse, und ab wann ich mein eigenes Ding durchziehe. Wichtig ist es, die eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen.

Bei welchen Anzeichen können Student*innen merken, ob der wahrgenommene Druck auf Burnout hindeutet?

Eindeutige Warnhinweise für Burnout zu benennen, ist schwierig. Unsere Psyche hat nur begrenzte Möglichkeiten, sich auszudrücken. Deshalb tauchen viele Symptome in verschiedenen Störungsbildern auf. Zum Beispiel können Schlafstörungen, Appetitmangel oder Konzentrationsmangel Hinweise auf Burnout sein. Sie können aber auch als Teil anderweitiger Krankheitsbilder fungieren oder anderen externen Faktoren verschuldet sein. Burnout hängt oft mit dem Selbstwert zusammen. Um die Symptome richtig zu deuten, ist gezielte Reflexion ausschlaggebend.

Was raten Sie Student*innen, die mit dem Druck überfordert sind und nicht mehr weiterwissen?

Die eben genannte Reflexion funktioniert mit außenstehenden Personen leichter. Wenn ein*e Student*in ein Burnout vermutet, raten wir zu einem Gespräch mit der Psychologischen Beratung. Als Außenstehende und mit Fachblick können wir eine Aussage machen und den betroffenen Student*innen der Situation entsprechend weiterhelfen.

Das Gespräch führte Merrin Chalethu.


Illustration: Céline Bengi Bolkan