Kendall Tiarra ist 26 Jahre alt und kommt ursprünglich aus Las Vegas, Nevada. In einem ukrainischen Dorf arbeitete sie als Englischlehrerin. Der UnAufgefordert erzählt sie von den rassistischen Anfeindungen auf der Flucht und der fehlenden Solidarität für Schwarze Geflüchtete. 

UnAuf: Wie bist du in die in Ukraine gekommen?

Kendall: Ich liebe es zu reisen und die vergangenen Jahre habe ich damit verbracht, in den unterschiedlichsten Ländern Englisch als Fremdsprache zu unterrichten. Ich fing zuerst in Spanien an und unterrichtete dort für drei Jahre und danach in Serbien. Letztes Jahr im November begann ich, in der Ukraine Englisch zu unterrichten.

Was hat dich in die Ukraine gezogen?

Ich war eigentlich auf der Suche nach Lehrberufen in Südkorea und konnte keine finden. Außerdem wäre mein Visa abgelaufen, also dachte ich mir, warum nicht? Sie bezahlten für meinen Flug und das Gehalt war nicht schlecht. Das war dann das erste Mal, dass ich mich so weit nach Osteuropa traute.

Und wie war dein Aufenthalt?

Insgesamt gut. Ich hatte anfangs Bedenken, weil ich gehört hatte, dass die Ukraine ein Neonazi-Problem hat. Außerdem hört man immer wieder, dass die meisten Länder in Osteuropa ein Rassismusproblem haben. Viele meiner Freund*innen hatten mich gewarnt, aber abgesehen von dem Krieg hatte ich keine schlechte Zeit. Ich fühlte mich willkommen in der Dorfgemeinschaft, wo ich unterrichtete, und ich liebte das Nachtleben von Kyjiw.

Wurdest du schon diskriminiert bevor der Krieg ausbrach?

Nicht wirklich. Ich war eigentlich überrascht, weil ich es mit Spanien vergleichen kann, wo ich ja drei Jahre gelebt habe. In Spanien sind die Leute direkter und deswegen auch der Rassismus offensichtlicher. Aber mir fiel auf, dass in der Ukraine die Menschen vieles für sich behalten. Die einzige Situation, die mich erschüttert hatte, war, als eine der Sechstklässler*innen zu mir kam und das N-Wort sagte.

Was mich daran erschütterte, war, dass ich weiß, dass er letztendlich nur ein Kind war und irgendwo dieses Wort gehört haben musste, sei es im Fernsehen oder wo auch immer. Diese Kinder kennen keine große Vielfalt an Menschen. Das war auch einer der Gründe, warum ich eingestellt wurde. Meinem Arbeitgeber war es wichtig, dass people of color engagiert werden, um diesem Problem zu begegnen. Aber abgesehen davon erlebte ich außerhalb von den ein oder anderen mikroaggresiven Bemerkungen keine wirkliche Benachteiligung.

Du hast bereits einige Monate vor Ausbruch des Krieges in der Ukraine gelebt. Wie war das politische Klima im Land bis zu dem Zeitpunkt der russischen Invasion?

Um ehrlich zu sein kann ich das nicht wirklich beurteilen. Ich war eben als Ausländerin unterwegs, war deswegen auch nicht interessiert an den politischen Geschehen innerhalb des Landes. Es war nicht mein Land, also hatte es mich auch nicht interessiert. Ich war ja nur für eine bestimmte Zeit dort. Als ich dort ankam, wusste ich nichts über die Ukraine. Ich wusste nicht einmal, dass es einen langjährigen Krieg mit Russland gibt. Vor allem in der Weihnachtszeit erhielt ich immer mehr Nachrichten von meiner Mutter.

Auf einmal sprach es sich herum, dass Russland die Ukraine überfallen würde. Ich fragte viele Ukrainer*innen nach deren Einschätzung, aber sie sagten alle ‘Nein, nein. Wir haben seit 2014 diese angespannten Verhältnisse zu Russland, aber nichts wird passieren. Natürlich gibt es im Ostgebiet Kämpfe, aber ein Kriegsausbruch ist unwahrscheinlich’.

Also machte ich mir auch keine weiteren Gedanken, aber dann eskalierte es im Januar wieder und ich fragte meinen Arbeitgeber, wie er die Situation einschätzt und ob er einen Evakuierungsplan hat. Die hatten keinen Plan und auch keinen Evakuierungsplan für die ausländischen Fachkräfte. Am Ende marschierte Russland doch ein. Wir waren also auf uns allein gestellt, als wir fliehen mussten. Selbst unseren Lohn aus dem Februar haben wir bis zum jetzigen Zeitpunkt nicht erhalten.

Viele Schwarze Austauschstudent*innen oder Lehrer*innen berichteten von rassistischen Angriffen auf der Flucht. Manche erzählen, dass Ukrainerinnen sie aus Zügen vertrieben hätten und andere, dass an der polnischen Grenze weißen Ukrainer*innen bevorzugt geholfen würde. Was war deine Erfahrung?

Ja, das ist richtig. Das war auch der Moment, in dem ich wirklich enttäuscht war, denn bis zu diesem Zeitpunkt wurde ich nicht offen rassistisch angegriffen. Als wir in einem benachbarten Dorf den Zug nach Lwiw nahmen, war noch alles okay. Der Zug war zwar etwas voll, aber da wir noch nicht die Grenze überquerten, sondern nur nach Lwiw fuhren, passierte nichts. Ich war mit meinen Kolleg*innen unterwegs und wir verloren uns irgendwann aus den Augen. Das müsste so um zehn Uhr nachts passiert sein. Ich war also alleine, saß auf dem Boden in der Nähe vom Raucherbereich und auf einmal sprach mich eine Gruppe von ukrainischen Frauen an. Und eine von ihnen sagte zu mir auf Englisch: ‘Tut mir leid, aber du kannst nicht hier sitzen’.

Ich mag es nicht, wenn Leute dreist zu mir sind und teile gerne aus, weil ich nicht auf den Mund gefallen bin. Also fragte ich sie verwirrt: ‘Was meinen Sie?’. Sie sagte ‘Du kannst hier nicht sitzen. Wir versuchen zu schlafen und außerdem habe ich eine Katze und du wirst sie sonst aufwecken. Und das Kind meiner Freundin ist auch hier, du kannst hier nicht sitzen’.

Darauf erwiderte ich, dass ich natürlich ein Recht darauf habe, da zu sitzen und gefragt, ob sie diejenige wäre, die den Zug fährt. Das artete in einem Wortgefecht aus und sie sagte irgendwann ‘Das ist der Grund, warum wir keine Ausländer in unserem Land haben möchten’. Ich ließ das natürlich nicht auf mir sitzen und fragte sie: ‘Sind die Ausländer diejenigen, die euer Land zerbomben? Wer zerbombt euer Land? Sind es Schwarze? Afrikaner? Muslime? Nein, es sind Weiße.’

Ich wurde weiterhin angepöbelt, sie versuchten mich wegzubewegen und riefen sogar eine der Zugbegleiter*innen aber ich blieb sitzen. Das war jedenfalls der erste Angriff auf mich. Als ich zusammen mit jungen afrikanischen Medizinstudentinnen einen Zug in Lwiw nahm, wurden wir ebenfalls rassistisch angegriffen.

Einige der Mädchen fingen in dem Moment an zu weinen. Sie waren zu schockiert, um zu reagieren, während ich zurück schubste oder die Leute beschimpfte. Ich lasse sowas nicht auf mir sitzen. Es wurde natürlich immer gewalttätiger und es war einfach nur barbarisch, wie sie uns behandelt haben. Meine Erfahrungen an der polnischen Grenze waren jedoch sehr gut. Sie gaben uns sehr viel Essen, warme Kleidung und wir kamen auch ohne Probleme durch die Grenze.

Hattest du das Gefühl, dass die Solidarität für weiße Ukrainer*innen die Solidarität für Schwarze übertraf?

Ja, definitiv. Ich meine, ich habe am Anfang sehr oft versucht empathisch zu sein, weil ich weiß, dass diese Menschen alles zurücklassen müssen. Ich verstehe das. Aber es ist trotzdem keine Ausrede dafür, sich fremdenfeindliche, rassistische Kommentare zu erlauben. Es ist keine Ausrede dafür, handgreiflich zu werden und Schwarze Frauen anzugreifen. Wir sind schließlich alle Frauen und das war das Enttäuschende für mich. Es war einfach dieser Hass gegen uns,  den wir abbekommen haben.

Ich weiß nicht, ob das ein typisches White Women-Verhalten war, denn meiner Erfahrung nach verhielten sich weiße Frauen schon immer so. Nicht jede der Frauen hat mich natürlich angegriffen, aber keiner kam mir zur Hilfe. Sie griffen uns gezielt an, anders kann man das nicht erklären. Ich weiß, dass ich das Gleiche erleben würde, wenn die Ukraine Russland angegriffen hätte und ich aus Russland fliehen müsste. Es ist anti-blackness und die gleichen Erfahrungen hätte ich wohl überall gemacht.

Ist es nicht ein doppelschneidiges Schwert, in solchen Situationen handgreiflich zu werden, weil man Gefahr läuft, das Stereotyp einer wütenden Schwarzen Frau zu bestätigen?

Exakt. Das ist auch etwas, worüber ich mit einer älteren Kollegin von mir redete. Sie ist ebenfalls eine Schwarze Frau wie ich und ist über 50 Jahre alt, also ungefähr 20 Jahre älter als ich. Neben dem Altersunterschied kommt hinzu, dass sie aufgrund ihres höheren Alters nicht so oft sexualisiert wurde wie ich und wahrscheinlich mehr respektiert wird. Sie kommt aus einer Generation, die nicht unbedingt an anti-blackness glaubt und gutgläubiger ist, was das angeht. Sie würde glauben, dass ich zum Beispiel Schuld daran sei, nicht genug respektiert zu werden, wegen der Art wie ich mich kleide.

Ich glaube aber, dass Menschen mich respektieren würden, egal wie ich mich anziehe. Ich werde mich deswegen nicht ändern und glaube nicht an Respektabilitätspolitik. Mir ist deswegen auch dieser Stereotyp egal. Rassisten werden Rassisten bleiben, egal wie ich mich verhalte. Das gleiche gilt auch für sexistische Männer. Sie würden auch nicht ihre Meinung ändern, wenn sie schon eine frauenverachtende Perspektive besitzen. Natürlich hatte ich mich vor Polizisten gezügelt, weil ich sonst Nachteile erleiden würde.

Ich denke, es gibt zwei Typen von Totschlagargumenten, um von Rassismus Betroffene zum Schweigen zu bringen: Whataboutismus und Täter-Opfer-Umkehrung. 

Ich bin eigentlich gegen Whataboutismus, aber jetzt frage ich: Was ist mit den syrischen Geflüchteten? Ich will einfach nur, dass die Menschen einsehen, dass es eine Doppelmoral gibt. Also sage ich provozierend: All lives matter. Ukrainisches Leben zählt. Russisches Leben zählt. Denn weiße Menschen lieben es, mit dem Schlagwort ‘All lives matter’ um sich zu werfen, wenn Betroffene über Rassismus sprechen. Aber es ist ein Fakt, dass manches Leben mehr zählt. Wenn wir noch in einer Welt leben, in der weiße Vorherrschaft und Sexismus dominieren, wird nicht jedes Leben gleich zählen. Ich wünschte, die Menschen würden es verstehen, dass wir Whataboutismus betreiben, weil uns die Scheinheiligkeit ermüdet.

Und jetzt lebst du in Spanien. Darf ich dich fragen, wie du dorthin gelangt bist? 

Ja, am Anfang war ich für zwei Wochen in eine Hostel in Krakau. Ich habe viele Freunde in Spanien, mit denen ich im Kontakt stand. Sie sagten zu mir, dass ich bei ihnen bleiben kann. Im Moment wohne ich mit einem Mitbewohner aus einer früheren WG zusammen. Ich flog von Polen nach Spanien und war dann auf Arbeitssuche. Aber im Moment hoffe ich darauf, in Deutschland oder Österreich als Englischlehrerin arbeiten zu können, sobald mein Schengen-Visum abläuft.


Foto: Kendall Tiarra