Was ist im Rückspiegel zu sehen? In In the Rearview spiegeln sich die wahren Lebensgeschichten von Ukrainer*innen wieder, die das Land wegen des Krieges verlassen mussten. Der Innenraum eines Autos wird für eine Weile zu ihrer Zuflucht und zum Raum für ihre Geschichten.

Zum vierten Mal fand von 25. bis 29. Oktober das Ukrainische Filmfestival in Berlin statt. Die Idee des diesjährigen Festivals war es, den Begriff Heimat durch das Prisma älterer sowie zeitgenössischer ukrainischer Filme zu reflektieren. Seit Beginn des Krieges haben Millionen Ukrainer*innen ihre Heimat verlassen. Ihre Realität ist seitdem geprägt vom Gefühl der Bedrohung ihrer Heimat, der Angst, sie zu verlieren und dem Zwang, weit weg von den Orten zu ziehen, an denen sie geboren und aufgewachsen sind. Die Filme ukrainischer Regisseure und über die Ukraine, die im Rahmen des Filmfestivals gezeigt wurden, versuchen den Begriff der Heimat neu zu erfinden.

Der Film In the Rearview vom polnischen Regisseur Maciek Hamela stellt die Wahrnehmung von Heimat als geografische Konstante in Frage und versteht sie als gemeinsame Erfahrung. Sein Film begann lange bevor die Kameras eingeschaltet wurden: mit Maciek Hamelas Entscheidung, sich freiwillig für die Evakuierung von Zivilisten aus ukrainischen Städten und Dörfern nach Polen zu engagieren. Maciek Hamela selbst fuhr Zivilisten, die alleine nicht in der Lage waren, die hohen Summen für den Transport zu bezahlen.

Wie der Regisseur selbst in einem Gespräch nach der Filmvorführung von In the Rearview auf dem Ukrainischen Filmfestival erzählte, wurden alle Menschen über die Kameras im Auto informiert. Das war die einzige Voraussetzung für ihre Mitfahrt. Gleichzeitig unterschrieben die Menschen die Zustimmung zur Verwendung des Materials erst nach ihrer sicheren Ankunft in Polen. So fühlten sie sich nicht unter Druck gesetzt, dass ihnen die Hilfe verweigert würde. Es stand allen frei, nicht zu unterschreiben und sie hatten nichts zu verlieren.

Während des größten Teils des Films ist die Kamera, die die Perspektive eines Rückspiegels imitiert, auf die sechs Sitze im Inneren des Minivans gerichtet. Auf ihnen sitzen unterschiedliche Menschen, doch sie alle eint die Hoffnung dem Krieg zu entkommen. In the Rearview ist anders, denn der Film zeigt den Krieg nicht auf direkte Weise wie zum Beispiel 20 Tage in Mariupol von Mstyslav Chernov. Er zeigt keine Bomben, die in Wohnhäusern explodieren, keine Frauen, die vor Trauer und Angst in Luftschutzkellern weinen, es gibt keine Aufnahmen von Kampfhandlungen. Vielmehr bietet dieser Film Raum für Geschichten, die erzählt werden können und gehört werden sollten. Der Krieg verdichtet sich in diesem Film in den Worten von Frauen, Männern, Senioren und Jugendlichen. Erschreckend emotionslos erzählen sie von Angst, Folter, Gewalt und Zerstörung. Der Krieg ist noch überall um sie herum, es genügt ein Blick durch das Autofenster. Draußen fahren noch immer Militärfahrzeuge vorbei, ausgebrannte Autos rauchen, Menschen rennen, um humanitäre Hilfe zu erhalten. Diese Bilder unterstreichen die trügerische Sicherheit und erzeugen eine unglaubliche Spannung und Angst um das Schicksal der Menschen im Wagen.

Hamelas Film zeichnet  ein kollektives Porträt von Ukrainern, die ihr Zuhause, ihre Verwandten, ihre Haustiere und all ihren Besitz zurücklassen, aber nicht ihre Heimat. Sie nehmen sie mit, tragen sie in guten alten und schmerzhaften neuen Erinnerungen. Die Erfahrung des Krieges verbindet die einander unbekannten Passagiere durch eine unsichtbare Linie.

Kinder nehmen in den Geschichten des Films einen besonderen Platz ein. Im Gegensatz zu den Erwachsenen können sie nicht erzählen, was sie erschreckt, verärgert oder zum Weinen gebracht hat. Auch wenn sie nichts sagen, kann man viel in ihren Augen lesen. Und es lohnt sich, In the Rearview anzuschauen, allein schon um in diese Augen zu blicken.


Foto: Yulia Kolgina